Erich Kästner Kinderdorf

Heilpädagogisch-Therapeutische Einrichtung
Träger: Kinderheim Erich Kästner e.V., privater Träger der Jugendhilfe, dem Paritätischen Wohlfahrtsverband (Landesverband Bayern e.V., Bezirksverband Unterfranken) angeschlossen

Eva-Maria Hoffart
veröffentlicht am 03.04.2022

 

1 Entstehung und Struktur

Das Erich Kästner Kinderdorf wurde am 1. Juli 1974 gegründet. Von Anfang wurde das Kinderdorf mit dem Namen und den Ideen Erich Kästners verknüpft, denn es war ein Glück, dass der Schriftsteller der Namensgebung zugestimmt hat. Auf die Anfrage hin sandte er aus München am 26. Mai 1974 dieses Telegramm: „Bin mit Kinderdorfbenennung einverstanden. Erich Kästner.“

Heute hat das Erich Kästner Kinderdorf in seinen sechs Häusern in Mainbernheim, Iphofen, Markt Einersheim, Feuerbach und Oberschwarzach 39 Plätze für Kinder und Jugendliche ab dem Alter von zwei Jahren. Ein weiteres Kinderdorfhaus mit acht Plätzen ist in Planung. Für die Kinder, die im Erich Kästner Kinderdorf leben, steht eine heiminterne Beschulungsmaßnahme, das SchulCHEN, mit maximal 14 Plätzen, bereit. Außerdem werden in den beiden Gruppen der Heilpädagogischen Tagesstätte in Kitzingen und Iphofen insgesamt 18 Kinder betreut.

Die Kinder finden ein Zuhause, das Geborgenheit bietet und in dem es viel Raum und Weite für Spiele, Laufen, Toben, Springen und für Phantasie gibt. Damit wird den Kindern die Familie ersetzt, denn sie leben hier, bis sie den Weg in die Selbständigkeit gehen können.

 

2 Herkunft der Kinder

Die Kinder stammen aus Familien, in denen sie nicht bleiben konnten, und kommen manchmal über Zwischenstationen wie Pflegefamilien oder einem anderen Heim, der Kinder- und Jugendpsychiatrie oder Adoptionsfamilien ins Kinderdorf. Jedes Kind hat seine eigene Geschichte, die oftmals viele leidvolle Erfahrungen beinhaltet, denn manche lebten in psychisch kranken Familien, in Familien, in denen ihnen Gewalt angetan wurde.

Im Laufe der Jahre haben sich die Problemlagen unserer Kinder geändert. Früher hatten wir laute und aggressive Kinder, die sich selbstbewusst eigene Gesetze machten, sich in der Gemeinschaft stark fühlten und solidarisierten. Heute kommen Kinder ins Kinderdorf, die manchmal so wirken, als wäre der Kern ihrer Persönlichkeit angegriffen. Viele ihrer elementarsten Bedürfnisse sind völlig unterdrückt und werden nicht gelebt. Sie sind stattdessen erfüllt von Traurigkeit, Verzweiflung, Wut und Sehnsucht. Sie suchen Geborgenheit, eine Gemeinschaft, von der sie so akzeptiert werden, wie sie sind, und Erwachsene, die ihnen Halt und Sicherheit geben und vor allem langfristig für sie Fürsorge übernehmen und die sie in ihr Herz schließen.

 

3 Pädagogisches Konzept

Den Weg in eine gelingende Teilhabe an unserer Gesellschaft gestaltet das Erich Kästner Kinderdorf mit einem traumapädagogischen Konzept in heilpädagogischen und therapeutischen Kinderdorfhäusern. Der überwiegende Teil der Häuser stellt eine Großfamilie zur Verfügung. Eine Familie mit eigenen Kindern lebt im Kinderdorfhaus. Ein oder beide „Hauseltern“ sind pädagogische Fachkräfte. Die eigenen Kinder und die Kinder des Kinderdorfes bilden den Familienverband. Alle Regeln und Sicherheiten der Familie stehen allen Mitgliedern zur Verfügung. Diese Kinderdorffamilie lebt jeweils auf dem Lande, in dörflicher Umgebung mit Anreiz für Freiraum und Abenteuer. Eine Integration in die Dorfgemeinschaft wird bewusst gesucht. Eine neue Entwicklung, die dem Bedarf der Kinder und den Bedürfnissen der Mitarbeitenden geschuldet ist, ist das familiale Kinderdorfhaus mit einem festen Team, das im Sinne einer erweiterten Großfamilie verlässlich und transparent zur Verfügung steht.

Das pädagogische Handeln vollzieht sich oft in Alltagssituationen. Es geht um Verständigung und Auseinandersetzung ebenso wie um Handeln und Miteinanderhandeln, um Zuhören, sich Aufeinandereinlassen. Es geht aber auch um Anregungen, Wissen, Gefühle und physische Bedürfnisse. Im Zentrum der Arbeit steht eine am Individuum, am einzelnen Kind orientierte Pädagogik. So bilden nicht der Vergleich mit den anderen Kindern, sondern die jeweiligen ganz speziellen Fähigkeiten den Ansatz für die Entwicklungsförderung und die Erziehungsplanung. Das wichtigste Ziel der Erziehung ist die selbständige Lebensgestaltung. Die Kinder brauchen einen sicheren Ort, an dem sie Wurzeln schlagen können und von dem aus sie ihren Weg in die Welt hinaus erfolgreich gehen können.

Darüber hinaus wird ein gezieltes traumapädagogisches und therapeutisches Handeln angeboten. Einzeltherapeutische Maßnahmen und therapeutische Strategien werden in Zusammenarbeit mit anderen Fachdiensten im Alltag umgesetzt. Jedes Kind wird nach seinen Möglichkeiten in die Pflichten der Familie eingebunden. Durch die bedingungslose Annahme des Kindes und die Übernahme von Verantwortung für das Ganze beginnen die Kinder Wurzeln zu schlagen und Vertrauen zu fassen. Dazu kommt, dass durch gemeinsame Erlebnisse und die Bewältigung von Abenteuern und Aufgaben in den Ferien die Grundlage für Selbstvertrauen geschaffen wird. So wird Selbstwirksamkeit erfahrbar gemacht, Selbstregulation eingeübt und vor allem eine verlässliche Beziehung geboten.

 

4 Einrichtungen und Aktivitäten

Im Jahre 2001 wurde das SchulCHEN eingerichtet, das einigen der Kinder ihr Recht auf Bildung sichert. Manche von ihnen sind eine Zeit lang nicht in der Lage, die nötige Anpassungsleistung für einen üblichen Schulalltag zu erbringen. Zu stark sind sie durch ihre Erlebnisse in ihrer Entwicklung und in ihrer Möglichkeit, auf ihre Fähigkeiten zurückzugreifen, eingeschränkt. Das SchulCHEN bietet ihnen Schutz und Entlastung und befähigt sie, wieder gelingend am Alltag einer externen Schule teilzunehmen. Seit 1998 gibt es die Heilpädagogische Tagesstätte, die mittlerweile auf zwei Gruppen angewachsen ist. Dort werden Kinder teilstationär betreut und ihre Eltern werden intensiv beraten, damit der Verbleib der Kinder in ihren Familien gesichert werden kann.

Märchen, Geschichten und Romane haben eine große Bedeutung für die pädagogische Arbeit. Literatur bietet viele Möglichkeiten, den Kindern Situationen verstehbar zu machen, ihre Gefühle in Worte zu packen und Lösungen für Herausforderungen anzubieten. Mit Ritualen wie dem Vorlesen am Abend erfahren sie Sicherheit und Geborgenheit. Einige namhafte Schriftsteller/innen sowie Kinderbuchautoren und -autorinnen waren in den letzten Jahrzehnten zu Besuch oder haben die Arbeit des Kinderdorfs begleitet bzw. tun es immer noch. Ihr Wirken ist sehr wertvoll, denn sie schenken den Kindern ihre Zeit und ermöglichen ihnen schöne Erlebnisse, indem sie sie immer wieder aufs Neue anregen, ihre Phantasie und Kreativität auszuschöpfen.

Seit 1991 gibt es in Oberschwarzach ein kleines Erich Kästner Museum, denn Luiselotte Enderle, die Lebensgefährtin Erich Kästners, hat dessen private Bibliothek mit fast 10.000 Büchern als Erbschaft hinterlassen. Nach Anmeldung ist sie für Besucher zugänglich. Die Bibliothek ist fester Bestandteil des Hauses Steinmühle. Neben vielen Besuchern aus Nah und Fern ist sie in den Alltag der dort lebenden Kinder eingebunden. Seit Kästners 100. Geburtstag wird zu seinen Ehren einmal im Jahr eine „Kästnerwoche“ im Herbst mit einem buntgemischten Programm mit Musik und Literatur veranstaltet.

 

5 Der innere Bezug zum Namengeber

Besonders stark ist die Verbindung zum Namengeber Erich Kästner geblieben. Seine Wertvorstellungen sind im Erich Kästner Kinderdorf allgegenwärtig. Ganz besonders wichtig ist sein Glaube an die Kinder und die Kindheit. Er nahm Kinder als Persönlichkeit ernst und begegnete ihnen mit Verständnis für ihre Belange und ihre Schwierigkeiten. Er scheute sich allerdings auch nicht, den Zeigefinger des Schulmeisters und Moralisten, der ihm von so vielen Kritikern oft vorgeworfen wird, zu zeigen. So finden wir in Kästners Werken den Mut zur Erziehung, den wir gerade in unserer heutigen Gesellschaft so dringend brauchen. Damit ist im Sinne Kästners der Mut gemeint, Grenzen aufzuzeigen, und der Mut, „Nein“ zu sagen, auch wenn es unbequemer ist als ein „Ja“. Kinder brauchen auf dem Weg zum Erwachsensein Grenzen, damit sie sich orientieren können, damit sie erkennen lernen, was falsch und was richtig ist, und damit sie die Chance bekommen, die Grenzen immer mehr zu erweitern und damit immer mehr Möglichkeiten des Lebens auszuloten.

Beeindruckend dabei sind Kästners Ansprüche an sich selbst, denn dieser steht nicht als tugendhafter Lehrmeister vor uns, der immer und zu jeder Zeit alles richtig machte, sondern als ein Mensch, der sich bemühte, zu lernen und sein Bestes zu geben. Er wusste um seine Schwächen und Fehler, er versuchte nicht, sie zu verstecken und zu vertuschen, sondern er meinte:

Jeder ist mitverantwortlich für das, was geschieht, und für das, was unterbleibt. Und jeder von uns und euch – auch und gerade von euch – muß es spüren, wann die Mitverantwortung neben ihn tritt und schweigend wartet. Wartet, daß er handle, helfe, spreche, sich weigere oder empöre, je nachdem. Fühlt er es nicht, so muß er’s fühlen lernen, beim einzelnen liegt die große Entscheidung.
Aber wie kann man es lernen? Steht man nicht mit seinem Bündel Verantwortung wie in einem Wald bei Nacht? Ohne Licht und Weg, ohne Laterne, Uhr und Kompaß?
(Erich Kästner: Die vier archimedischen Punkte. Kleine Neujahrs-Ansprache vor jungen Leuten. In: Die kleine Freiheit. Chansons und Prosa 1949–1952. Hamburg: Atrium 1952, S. 135–138)

Und damit fordert Kästner von jedem – ob von Kind oder Erwachsenem – Selbstverantwortung und Selbsterkenntnis. Aus diesem toleranten Bewusstsein erwächst Verantwortung auch innerhalb der Gesellschaft. Eine Gruppe, in der jeder einzelne seine Schwächen und Stärken hat und haben darf, ist stark in ihrem Zusammenhalt. Erich Kästner bedeutet Erziehung zur Hoffnung, den Mut andere Wege zu gehen, eigenwillig zu sein, hinfallen und wieder aufstehen zu dürfen, unbequem und doch ein Teil des Ganzen zu sein und trotz aller Widrigkeiten den Glauben an das Gute im Menschen zu behalten und zu leben.