Wolf Erlbruch

geboren am 30. Juni 1948 in Wuppertal
Illustrator, Schriftsteller, Hochschullehrer

Helena Trapp
veröffentlicht am 22.09.2022

 

1 Biogramm

Geboren wurde Wolf Erlbruch 1948 in Wuppertal. Von 1967 bis 1974 studierte er an der Folkwang Hochschule für Gestaltung in Essen Grafik-Design mit zeichnerischem Schwerpunkt. Nach seinem Abschluss war er zunächst als freiberuflicher Illustrator in der Werbebranche tätig und belieferte internationale Magazine wie Esquire, Stern und twen mit Illustrationen, von denen einige ausgezeichnet wurden (vgl. Baurmann 2009).

Erst Ende der 80er Jahre begann er mit dem Verfassen und Illustrieren von kinderliterarischen Texten; sein Erstlingswerk war Der Adler, der nicht fliegen wollte (1985). Mit Die fürchterlichen Fünf erschien 1990 sein erstes Kinderbuch, bei dem neben den Illustrationen auch der Text von ihm selbst stammte. Neben seiner Künstlertätigkeit war Erlbruch als Professor an der Fachhochschule Düsseldorf und an der Bergischen Universität Wuppertal tätig.

Die folgenden Ausführungen richten den Fokus auf Erlbruchs Schaffen im kinderliterarischen Bereich.

 

2 Grundzüge des kinder- und jugendliterarischen Werks

An der Arbeit für Kinder reizt mich vor allem deren Wachsamkeit. Deshalb versuche ich beim Illustrieren möglichst alles zu vermeiden, was ihnen eine spezielle Kinderwelt verspricht. Die gibt es nämlich nur in der Vorstellung der Erwachsenen. (Erlbruch im Interview mit Ehmann o. J.)

Das Kategorisieren in Bezug auf eine bestimmte Zielgruppe bezeichnet Erlbruch als „lästige Eigenschaft“ (Ehmann o. J.), da es der Individualität der Lesenden nicht gerecht werde. Aus diesem Grund schreibt er nicht explizit für Kinder, sondern für Kinder und Erwachsene, die er gleichermaßen zum Denken anregen möchte (vgl. ebd.).

Aus diesen Gründen kritisiert Erlbruch auch den gegenwärtigen Kinderbuchmarkt: Die in vielen Texten anzutreffende gängige Vorstellung von Kindgemäßheit werde der Individualität der kindlichen Lesenden nicht gerecht und zudem oftmals mit Anspruchslosigkeit und Unzulänglichkeit gleichgesetzt. Damit bezieht er sich auf ein Verständnis von Kindgemäßheit als „Gegenständlichkeit, Einfachheit und Eindeutigkeit in Aussage und Stil“ (Thiele 2013, S. 36), bei der das „Naive, Lustige und Anekdotische“ (ebd. S. 37) zur Norm erhoben ist. Derart gestaltete Werke seien zwar bunt, aber gleichzeitig bieder, da sie sich in bewahrpädagogischer Manier jedweder Neugestaltung verweigerten (vgl. ebd.).

Die meisten Kinderbücher sind misslungene Verklärungen der eigenen Kindheit. Ich glaube nicht, dass es unbedingt Bücher geben muss, die Kindern vorgaukeln, dass es ein paar todsichere Tricks für eine schöne Kindheit gibt. (Erlbruch im Interview mit Schnettler 2006)

Er plädiert dafür, Kinder ernst zu nehmen, ihnen nicht mit starren Zuschreibungen, sondern aufmerksam zu begegnen:

Ich meine, dass jedes Kind Bücher verdient, die es ernst nehmen, weil jemand ihm von seiner Weltsicht erzählt. Kein Kind ist so infantil, wie oft die Dinge daherkommen, die Erwachsene ihm als kindgerecht andrehen wollen. (Erlbruch im Interview mit Schnettler 2006)

Erlbruch versucht somit bewusst, sich von den gängigen Vorstellungen von Kindgemäßheit zu distanzieren, indem er sowohl thematisch als auch auf erzähl- und bilddramaturgischer Ebene eigenständige Wege einschlägt. Klingen sie in seiner frühen Schaffensphase noch leise an, verzichtet Erlbruch in seinen späteren Werken auf moralische und belehrende Botschaften, was schließlich eines der Charakteristika der Werke wird, die von ihm (mit)gestaltet sind. Ein weiteres Merkmal ist die Mehrdeutigkeit, die individuelle Deutungsansätze zulässt. Sie entsteht dadurch, dass einzelne Elemente in einem Werk wiederholt aufgegriffen oder Bezüge zu anderen kulturellen Artefakten herstellbar werden. Die somit entstehende Netzstruktur lässt die Werke Erlbruchs zu einer Ausgrabungsstätte werden, die auch nach mehrmaliger Lektüre bzw. Betrachtung noch Fundstücke für die neugierigen Lesenden, unabhängig von ihrem Alter, bereithält.

In seinen Werken mischt Erlbruch Groteskes und Alltägliches. Das Ende ist meist offen gestaltet oder mit einem kecken, überraschenden Witz versehen. Typisch für Erlbruch ist außerdem der spielerische Umgang mit Sprache, den er nicht nur im Verbaltext zur Schau stellt, sondern auch in seinen Bildern, die mitunter aus Buchstaben, Worten und Wortgruppen bestehen.

Das Themenspektrum, dem sich Erlbruch sowohl in den von ihm illustrierten als auch in seinen eigenen Werken widmet, ist breit gefächert. So finden sich unter ihnen ernste und tiefsinnige Texte, in denen Sinnsuche und philosophische Fragen (Die große Frage 2004; Am Anfang 2003; Der König und das Meer 2008), Ängste (Leonard 1991), das Böse (Die Menschenfresserin 1996), das Sterben und der Tod (Ente, Tod und Tulpe 2007; Ein Himmel für den kleinen Bären 2003) thematisiert werden. Doch auch das Banale und Amüsante, das vermeintlich leichtfüßig daherkommt, prägt Erlbruchs Schaffen (Vom kleinen Maulwurf, der wissen wollte, wer ihm auf den Kopf gemacht hat 1989; Zehn grüne Heringe 1995; Die Katzen von Kopenhagen 2013). Daneben gibt es Abenteuergeschichten (Neue Abenteuer von Eduard Speck 1993; Die wundersame Reise des kleinen Kröterichs 1998; Olek schoss einen Bären 2006), zärtlich sinnliche Erzählungen (Frau Meier, die Amsel 1995; Die Werkstatt der Schmetterlinge 1994) oder solche, in denen eine augenzwinkernde Kritik oder ein satirischer Unterton – meist gegenüber den Erwachsenen – mitschwingt (Der Bär auf dem Spielplatz 1998; Das ist kein Papagei 1994).

Im Folgenden wird zunächst ein Blick auf Erlbruchs Tätigkeit als Illustrator geworfen. Im Anschluss daran wird auf sein Schaffen als Autor und Illustrator eingegangen, wobei jene Texte im Mittelpunkt stehen, die er sowohl illustriert als auch geschrieben hat.

2.1 Der Illustrator

Das wohl berühmteste Bilderbuch, das mit Erlbruch in Verbindung gebracht wird, ist Vom kleinen Maulwurf, der wissen wollte, wer ihm auf den Kopf gemacht hat (Text: Werner Holzwarth 1998). Das Bilderbuch war ein tabubrechendes Werk, das vom Verlag Peter Hammer zunächst auch nur zögernd angenommen wurde, dann aber rasant zum Verkaufsschlager avancierte. Erzählt wird die Geschichte eines kleinen Maulwurfs, der eines Tages feststellen muss, dass ihm „jemand auf den Kopf gemacht hat“. Er macht sich auf, um den Schuldigen zu finden. Seine Reise führt ihn zu den unterschiedlichsten Tieren, von denen er jeweils wissen will, ob sie für das Häufchen auf seinem Kopf verantwortlich sind. Alle Tiere verneinen und geben als Beweis eine Kostprobe ihrer Hinterlassenschaft, wobei der Ausscheidungsvorgang jedes Mal lautmalerisch begleitet wird („platsch“, „klackediklack“, „rumsdi pumps“ etc.). Als der Maulwurf schließlich den Hofhund der Übeltat überführen kann, lässt er selbst („pling“) ein „kleines schwarzes Würstchen“ auf dessen Kopf ab und kann „glücklich und beruhigt“ ins Unterirdische entschwinden. Gestaltet hat Erlbruch die Illustrationen so, dass auf einer Doppelseite jeweils links der Maulwurf zu sehen ist, der empört fragend auf seinen vollgemachten Kopf zeigt, und auf den rechten Buchseiten eines der aufgesuchten Tiere, dessen Ausscheidung und den kleinen Maulwurf, der diese Ausscheidung genau inspiziert und mimisch kommentiert. Die sich wiederholende Erzählstruktur, die Darmentleerungslautmalereien und das unerwartete Ende verleihen dem Werk eine mehr als nur unterschwellige Komik.

Auch der Maulwurf Max, der von 1994 bis 2022 als Maskottchen der Deutschen Bahn mit kecken oder humorvollen Sprüchen auf Baustellen in Bahngebäuden und am Schienennetz hinwies, wurde von Erlbruch ins Leben gerufen.

Seine frühen Werke gestaltete Erlbruch zunächst im ähnlichen boulevardesken (Maulwurf-)Stil, dann wird sein Stil reduzierter und gedämpfter und er macht sich die Technik der Collage zu eigen, die charakteristisch für sein bildnerisches Werk wird. Ein wichtiges Werkzeug ist für Erlbruch die Schere; ausgeschnittene Fragmente aus Papieren unterschiedlichster Beschaffenheit und Quellen arrangiert er zu einem neuen Gesamtwerk, auf das er mit verschiedenen Zeichengeräten und -stoffen wie Pinsel, Kreide, Feder, Tinte, Pastell- und Buntstift zeichnet. Aufgrund dieser Technik finden sich in seinen Bildern beispielsweise Landkartenschnipsel, Fetzen einer mathematischen Formelsammlung, Tabellen, Zahlenreihen und alte Buchseiten wieder.

Weil er die Collage, die lange Zeit als nicht kindgemäß galt und daher kaum verwendet wurde, in seinen (Kinder-)Bilderbüchern populär gemacht hat, gehört Wolf Erlbruch nach Auffassung Thieles „zu den wenigen Illustratoren im deutschsprachigen Raum, die eine grundsätzlich andere Auffassung von Illustrieren in das Bilderbuch hineingetragen haben“ (Thiele 2013, S. 40).

Erlbruch spielt mit den unterschiedlichen Materialitäten, was prägend für seinen Erzählstil ist. Indem er Einzelelemente zu einem neuen Erzeugnis zusammenfügt, verfremdet er, bastelt neue Sinnzusammenhänge, vernetzt. Die entstehenden Arrangements aus Linien, Flächen und (Frei-)Räumen entziehen sich einer eindeutigen Bedeutungszuschreibung. Erlbruch verschiebt Perspektiven, generiert dadurch neue Blickwinkel und setzt Bekanntes in neue Kontexte. Durch sein Kompositionsspiel entstehen, wenn sie auch nicht bewusst gesetzt sein sollten, unweigerlich indirekte Anklänge an Kunst- und Kulturikonen, die sich jedoch nicht aufdrängen, sondern wahrgenommen werden können. Die mit dieser Darstellungsweise einhergehende nicht auf den ersten Blick erkennbare Intertextualität bzw. Interpiktorialität wird nicht nur stilbildend für sein Werk, sondern beeinflusst auch den Bilderbuchmarkt (s.u.).

Ebenso kennzeichnend für Erlbruch ist sein Spiel mit symbolischen Bedeutungen. So ziehen in dem Bilderbuch Das Bärenwunder (1993), in dem unterschwellig der Akt der Fortpflanzung thematisiert wird, zwei Bären durch einen Wald aus Birken, die symbolisch für Fruchtbarkeit stehen. Der Tod in Ente, Tod und Tulpe (2007) trägt in seiner Hand eine Tulpe und damit eine Pflanze, die für die Liebe, aber auch für die Vergänglichkeit steht.

Erlbruch gestaltet seine Bilder größtenteils monoszenisch und stellt damit jeweils einen Handlungsmoment dar. Seine Figuren zeichnen sich durch ihre Ausdrucksstärke aus. Die karikierten Körper, die oft nur weniger Linien und Flächen bedürfen, sprechen eine eigene Sprache und charakterisieren die Wesen mit bestimmten Eigenschaften. Damit sind sie Ausdruck eines Stils, der sich von den für kinderliterarische Texte bzw. Kinderbilderbücher etablierten Formen abgrenzt und sich durch seine Unkonventionalität gekennzeichnet ist. Fernab von Verklärung und Stilisierung einer kindlichen Lebenswelt weisen sie zudem oftmals ironische und ambivalente Brechungen auf.

Protagonisten und Protagonistinnen sind in Erlbruchs Werk häufig tierische Figuren. Während einige von ihnen eher verfremdet, provokant, skurril, schrullig und bizarr daherkommen, sind sie trotzdem allesamt auf eine ganz eigene Weise zart und wirken damit verletzlich und anrührend. So erscheinen die fürchterlichen Fünf, unter denen jene Tiere sind, die bei vielen Menschen mit Ekel oder Angst verbunden sind, am Ende gar nicht mehr so hässlich, sondern liebenswert. Ein plumper Bär entpuppt sich nicht als die von den Eltern befürchtete Gefahr, sondern als sensible Seele, die lediglich gemeinsam mit den Kindern auf dem Spielplatz spielen möchte (Text: Dolf Verroen 1998).

Auch die phantastischen Wesen tragen Erlbruchs Handschrift deutlich zur Schau. Den Teufel, dem der heldenhafte Olek begegnet (Olek schoss einen Bären, Text: Bart Moeyaert 2006), bezeichnet Erlbruch als eine „Teufelsmaschinerie“ (Erlbruch im Interview mit Schnettler 2006), die zwar Potenzial zur fürchterlichen Erscheinung hat, aber bei näherer Betrachtung erbärmlich und verfallen bzw. verbraucht wirkt. Der lächerlich morsche Dreizack, die Körperteile, die notdürftig zusammengeschustert scheinen, die gelben tiefhängenden Augen und die winzigen Hörner nehmen ihm jeden Schrecken. Die Bilder deuten damit bereits an, dass es Olek ist, der aus dem Aufeinandertreffen als Sieger hervorgehen wird. Auch der Tod (Ente, Tod und Tulpe, Erlbruch 2007) wirkt in seinem karierten Mantel und dem zarten Lächeln auf den knöchernen Lippen nicht angsteinflößend, aber im Gegensatz zum Teufel ist sein Auftreten würdevoll – vielleicht auch, weil er nicht zu besiegen ist.

Insbesondere bei den menschlichen Figuren, die ebenfalls nicht naturalistisch dargestellt sind, werden die verzerrten Körperproportionen deutlich überzeichnet. Aus verschiedenen Materialien komponiert Erlbruch die Menschenfresserin im gleichnamigen Werk (1996, Text: Valérie Dayre) als monströses, grotesk erscheinendes Wesen und verbildlicht damit gleichzeitig ihren Charakter. Sie ist eine Frau, die blind vor Gier ihr eigenes Kind verschlingt, was sie danach in eine Phase tiefen Selbstmitleids stürzen lässt. Sie hat „[e]in Kinn wie ein Schaufelbagger. Finger wie Pommes frites. Schrecklich runde Augen. Und ein[en] Nacken wie ein Stier im Rinderwahnsinn (Detje 1996) und gleichzeitig trägt sie buntgemusterte Kleidungsstücke, ihr körperlicher Wuchs ist unnatürlich deformiert, die Extremitäten sind seltsam verrenkt und auf ihrem Kopf trägt sie Blätter einer Kletterpflanze, bezeichnenderweise der Monstera deliciosa, was ihr bemitleidenswerte Züge verleiht. Die Bilder zeigen nicht, wie die Menschenfresserin das kleine Kind verspeist. Stattdessen wird der Schrifttext „Und sie fraß ihn“ auf bildlicher Ebene von einem einzelnen Monstera-Blatt sowie einem wahnhaft wirkenden Affen, der Mund und Augen weit aufgerissen hat und auf einer Blechtrommel spielt, begleitet. Obwohl die beiden Elemente, die isoliert vor einer weiten hellfarbigen Fläche auftreten, die sich ereignende Grausamkeit nicht abbilden, wirken sie doch in Kombination mit den wenigen Worten nicht weniger schockierend. Es ist gerade diese Leerstelle, deren weitestgehend harmlose Einzelteile aufgrund des Kontextes an die Vorstellungskraft der Betrachtenden appellieren und die somit eine bis ins Mark erschütternde Wirkung erzielt.

Neben anthropomorphen und anthropomorphisierten Wesen scheinen es Erlbruch auch Zahlen- und Buchstabenspiele angetan zu haben. Mit Zehn grüne Heringe schafft er aus einem alten Kindervers nicht nur auf bildlicher, sondern auch auf poetischer Ebene ein neues Meisterwerk. Auch das Hexen-Einmal-Eins, dessen Text Goethes Faust entnommen ist, inszeniert er illustrativ. Durch seine Illustrationen zum Text aus Karl Philip Moritz’ Neues ABC-Buch (1790) interpretiert Erlbruch den Klassikertext neu und schickt die Leser und Leserinnen auf eine philosophisch-poetische Reise durch die Welt der Buchstaben und löst auf diese Weise die Grenze zwischen Schrift und Bild auf.

Ein Kinderbuch und kein Kinderbuch. […] Wo Moritz predigt, da gerät Erlbruch ins Träumen. Wo Moritz mahnt und klagt, öffnet Erlbruch leise ein paar Türen und Fenster ins Freie. Wo Moritz, vom eigenen Pathos ergriffen, die Tugend preist, inszeniert Erlbruch ironisch das große Welttheater. (Erenz 2018)

Erlbruch ist ein autonomer Künstler, ein Kunstschaffender. Dass er sich nicht an ein Lesepublikum mit vermeintlichen Interessen und Bedürfnissen richtet, schenkt ihm die Freiheit, seinen eigenen, unverwechselbaren Stil auszubilden und auszuleben. Er realisiert eine neue Erzählform, die in jeglicher Hinsicht unkonventionell ist – nicht nur in dem, was er, sondern auch wie er es erzählt. Er belehrt nicht, er irritiert. Erlbruch schenkt Freiräume, die jede und jeder selbst entdecken kann, Gedankenspielwiesen, die zum Toben einladen. Die Bedeutung seiner Kunstwerke ist nicht vorgegeben, sondern darf auf Grundlage der eigenen Erfahrungen, Assoziationen und Empfindungen hergestellt werden. Es hat den Anschein, als würde er sich einzig und allein der Kunst verpflichten.

2.2 Der Schriftsteller und Illustrator

Schon kurz nach Die fürchterlichen Fünf (1990) erscheint Leonard (1991), dessen Titel als Anspielung auf den Namen seines Sohnes gelesen werden kann, dem das Buch gewidmet ist. Kurz darauf wird Das Bärenwunder (1992) veröffentlicht, das 1993 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis in der Sparte Bilderbuch ausgezeichnet wird. Das nächste Werk, bei dem sowohl der Text als auch die Illustrationen von Erlbruch selbst stammen, ist Frau Meier, die Amsel (1995).

Erzählt wird hier durch Bild und Schrifttext, die wie ein „geflochtene[r] Zopf“ (Thiele 2000, S. 74-76) ineinandergreifen. Der Charakter der Erzählung ist ein dialogischer, da die einzelnen Teile der Geschichte jeweils nur auf einer der beiden (Zeichen-)Ebenen erzählt werden. Bereits im Titel wird eine „Eindeutigkeit […] spielerisch umgangen“ (Baurmann 2009, S. 5), da er offenlässt, ob es um Frau Meier und die Amsel geht oder ob Frau Meier die Amsel ist (vgl. ebd.). In der Geschichte wird dann deutlich, dass beide Lesarten plausibel sind. Es kommt zu einer Verwischung der Grenzen zwischen Realem und Phantastischem, da Frau Meier selbst nach und nach amselhafte Züge annimmt und sogar mit ihrer tierischen Freundin zum gemeinsamen Morgenausflug aufbricht. Auch die Bildbegrenzung, ein roter Buntstiftstrich, der das Bild einrahmt und so vom Schrifttext abtrennt, löst sich auf, wenn Frau Meier mit der Amsel interagiert. Eine ähnliche Grenzverwischung ist auch in Nachts (1998) auszumachen.

Es ist Nacht und der kleine Fons ist „hellwach“. Er will hinaus und zerrt seinen Vater unsanft aus dem Bett, damit dieser ihn begleite. Der Vater jedoch ist von der Idee seines Sohnes alles andere als begeistert; auf sein nüchternes und bestimmtes „Nachts wird geschlafen“ zählt er demonstrativ eine Reihe von Lebewesen auf, darunter auch Bekannte, Familienmitglieder und Tiere, die allesamt nachts schlafen. Während der Schrifttext, der nur einen kleinen Bereich am unteren Seitenrand einnimmt, die Litanei des Vaters abbildet, erzählt die Bildebene eine andere Geschichte. Zu sehen sind hier Vater und Sohn, die Hand in Hand durch die Nacht laufen und dabei eine phantastische Begegnung nach der anderen haben. Der schlaftrunkene Vater scheint von alledem nichts mitzubekommen, so sehr ist er in seinen Monolog vertieft. Der Sohn hingegen trifft, gemeinsam mit den Rezipierenden, auf einen uhrentragenden Affen, der mit dem Sohn und dem nichtsahnenden Vater das Spiel „Engelchen, Engelchen, flieg“ spielt, einen Eisbären, der ihn auf sich reiten lässt, sowie ein Mädchen, das Fons einen Ball übergibt, während es durch einen Reifen schwebt. Weil der Bildtext zum Inhalt der Figurenrede des Vaters in einem kontrapunktischen, gar widersprüchlichen Verhältnis steht, werden in der Erzählung zwei Dimensionen eröffnet. So gibt es den Bereich, der der Wahrnehmung des Vaters nahekommt, und einen phantastisch magischen Bereich, der dem Vater verschlossen bleibt. Gespickt ist dieser außerdem mit einer Reihe von intertextuellen Bezügen; so kann der Affe als King Kong wahrgenommen werden, eine Mickey Mouse ist zu sehen und das Mädchen im Reifen erinnert an Alice im Wunderland (nach der Zeichnung von Anthony Browne 1989) (vgl. Weinkauff/von Glasenapp 2018, S. 177 ff.). Auch durch die künstlerische Darstellungsweise sind die Bereiche voneinander unterschieden; die Elemente der magischen Welt sind im Stil der surrealistischen Malerei abgebildet und die phantastischen Figuren sind plastisch und vergleichsweise riesig dargestellt, während Vater und Sohn flächig und holzschnittartig wirken.

Die Erzählung endet mit einem Bild, das das väterliche Schlafzimmer zeigt. Der Vater hat nichts mehr zu erzählen und ist im Begriff, seine Nachtruhe fortzusetzen. Der enge Zusammenhang zum ersten Bild bestätigt den Eindruck, als habe sich das auf der bildlichen Ebene gezeigte Geschehen einzig und allein in der Vorstellung des Sohnes abgespielt. Dass Fons allerdings im letzten Bild den Ball in den Händen hält, den er von dem Reifen-Mädchen resp. Alice erhalten hat, weist darauf hin, dass wir es nicht mit einer einfachen Trennung zwischen der Realität und der Traumwelt des Sohnes zu tun haben. Vielmehr ist der Ball ein Indiz dafür, dass die nächtlichen Abenteuer des Sohnes real waren, der Wahrnehmung des Kindes wird zumindest zu einem gewissen Grad die Wirklichkeit erteilt. Damit findet eine Grenzverwischung statt, die die Traumreise als eine nur scheinbare Traumreise erscheinen lässt. Weinkauff und von Glasenapp sprechen aus diesem Grund von einer „Zweidimensionalität auf Ebene der Darstellung“ (Weinkauff/von Glasenapp 2018, S. 181), nicht der Handlung, da die magische Welt ein Teil der erzählten Welt ist.

Durch die Unvereinbarkeit der Wahrnehmungen und die zahlreichen intertextuellen wie -piktoralen Verweise ist Erlbruchs Nachts ein komplexes Werk, das (nicht nur) für Kinder im klassischen Bilderbuchalter attraktiv ist.

 

3 Rezeption

Obgleich hin und wieder, meist von Seiten erwachsener Vermittlerinnen und Vermittler, Stimmen laut werden, die den Werken Erlbruchs eine Überforderung der jungen Leser und Leserinnen vorwerfen, gibt ihm die breite öffentliche Wahrnehmung, darunter auch die fachwissenschaftliche und feuilletonistische, Recht. Wolf Erlbruch gilt als einer der bekanntesten und renommiertesten Illustrationskünstler Deutschlands. Für sein Schaffen erhielt er zahlreiche Auszeichnungen. Neben dem Deutschen Jugendliteraturpreis (Sonderpreis Illustrator/in 2003), dem Gutenberg-Preis (2003), dem Hans Christian Andersen-Preis (2006) und dem e.o.plauen-Preis (2014) sowie dem Silbernen Griffel, den er gleich dreimal erhielt, wurde er auch mit dem Astrid Lindgren Memorial Award gewürdigt. Diese höchstdotierte Kinderbuchauszeichnung der Welt konnte Erlbruch 2017 als erster Deutscher überhaupt entgegennehmen.

Viele seiner Werke wurden übersetzt, allen voran der Kleine Maulwurf, der in mehr als 30 Sprachen übertragen wurde.

Der Kunsthistoriker Jens Thiele verweist auf Wolf Erlbruch als positives Gegenbeispiel, wenn er die Tatsache kritisiert, dass Illustratoren und Illustratorinnen für Bilderbücher weniger ernstgenommen werden und in ihrem Schaffen deutlich begrenzter sind als freie Künstlerinnen und Künstler. Erstere werden durch den Markt reglementiert, der sie zur Adressatenorientierung verpflichtet und damit meist eine gängige Vorstellung von Kindgemäßheit impliziert. Die Bilderbuchillustratoren und -illustratorinnen werden gezwungen, ihre Kunst nach diesen Annahmen auszurichten. In den letzten Jahren sind jedoch durchaus Veränderungen zu beobachten; im Zuge der Postmoderne etablieren sich zunehmend komplexere und experimentelle Formen, die traditionelle Normen aufbrechen. Als einen dieser Wegbreiter nennt Thiele Erlbruch (vgl. Thiele 2013, S. 38 ff.).

Es ist vor allem Erlbruchs originelle Bilddramaturgie, die mit konventionellen Sehgewohnheiten bricht und die gefestigte Grenze zwischen Kunst und Bilderbuchillustration mit ihren vermeintlich kindgemäßen Normen überschreitet. Neben der Grenzverwischung zwischen Phantasie und Realität in seinen Erzählungen verweigert er sich durch seine unbeirrbare Grundeinstellung auch in seiner Kunst tradierten Kategorisierungen. Seine Haltung Kindern gegenüber prägt seine Kunst oder seine Kunst ist Ausdruck seiner Haltung, womit er nicht nur seine Sicht auf Kindheit ausdrückt, sondern eine neue Vorstellung von ,Kindgemäßheit‘ definiert, die gleichzeitig die Grenze zwischen erwachsenem und kindlichem Rezipienten auflöst.

[…] Wolf Erlbruchs Kinder- und Bilderbücher sind deshalb in ihrer künstlerisch-ästhetischen und inhaltlichen Form in den 90er Jahren wegweisend geworden. Vor allem seine Bilderbücher haben wesentlich dazu beigetragen, dass sich der traditionelle Bilderbuchmarkt einer Öffnung gegenüber Einflüssen moderner Kunst sowie neuen medialen Erzählformen nicht länger verschließen konnte. (Blei-Hoch/Bode/Raecke 2003)

 

Literaturverzeichnis

Primärliteratur (Auswahl)

  • Der Adler, der nicht fliegen wollte (Text: James Aggrey, übers. von Alfons Michael Dauer). Wuppertal: Jugenddienst 1985.
  • Vom kleinen Maulwurf, der wissen wollte, wer ihm auf den Kopf gemacht hat (Text: Werner Holzwarth). Wuppertal: Peter Hammer 1989.
  • Die fürchterlichen Fünf. Wuppertal: Peter Hammer 1990.
  • Wuppertal: Peter Hammer 1991.
  • Das Bärenwunder. Wuppertal: Peter Hammer 1992.
  • Die Abenteuer von Eduard Speck (Text: John Saxby, übers. von Sybil Gräfin Schönfeldt). München: Hanser 1993.
  • Die Werkstatt der Schmetterlinge (Text: Gioconda Belli, übers. von Anneliese Schwarzer). Wuppertal: Peter Hammer 1994.
  • Frau Meier, die Amsel. Wuppertal: Peter Hammer 1995.
  • Zehn grüne Heringe. München: Hanser 1995.
  • Neue Abenteuer von Eduard Speck (Text: John Saxby, übers. von Sybil Gräfin Schönfeldt). München: Hanser 1996.
  • Mein kleiner Hund Mister (Text: Thomas Winding, übers. von Gabriele Haefs). Frankfurt am Main: Büchergilde Gutenberg 1996.
  • Die Menschenfresserin (Text: Valérie Dayre, übers. von Gudrun Honke). Wuppertal: Peter Hammer 1996.
  • Das Hexeneinmaleins (Text: Johann Wolfgang von Goethe). München: Hanser 1998.
  • Mein kleiner Hund Mister in der Nacht (Text: Thomas Winding, übers. von Gabriele Haefs). Hamburg: Carlsen 1998.
  • Die wundersame Reise des kleinen Kröterichs (Text: Mirjam Pressler und Yaakov Shabtai). München: Hanser 1998.
  • Engel und anderes Geflügel 5. Ein Adventskalender zum Malen, Basteln und Schnippeln (Text: Max Christian Graeff). Hamburg: Rowohlt 1998.
  • Wuppertal: Peter Hammer 1999.
  • Neues ABC Buch (Text: Karl Philipp Moritz). München: Antje Kunstmann 2000.
  • Am Anfang (Text: Bart Moeyaert). Wuppertal: Peter Hammer 2003.
  • Ein Himmel für den kleinen Bären (Text: Dolf Verroen, übers. von Marcel Glück). München: Hanser 2003.
  • Die große Frage. Wuppertal: Peter Hammer 2004.
  • Olek schoss einen Bären (Text: Bart Moeyaert, übers. von Mirjam Pressler). Wuppertal: Peter Hammer 2006.
  • Ente, Tod und Tulpe. München: Verlag Antje Kunstmann 2007.
  • Der König und das Meer, 21 Kürzestgeschichten (Text: Heinz Janisch). München: Hanser 2008.
  • Mit dem Gedicht „Schöne Jugend“ von Gottfried Benn. (Text: Gottfried Benn). Berlin: Jacoby & Stuart 2009.
  • Die Katzen von Kopenhagen (Text: James Joyce, übers. von Harry Rowohlt). München: Hanser 2013.
  • Der Bär, der nicht da war (Text: Oren Lavie, übers. von Harry Rowohlt). München: Antje Kunstmann 2013.

Sekundärliteratur

  • Baurmann, Jürgen: Wolf Erlbruch. In: Kurt Franz/Günter Lange/Franz-Josef Payrhuber (Hrsg.): Kinder- und Jugendliteratur. Ein Lexikon. Meitingen: Corian 2009, S. 1–36.
  • Browne, Anthony: Alice auf dem Weg „hinab ins Kaninchenloch“. In: Carroll, Lewis: Alice im Wunderland. Übersetzung von Christian Enzensberger. Illustriert von Anthony Browne. Oldenburg: Lappan Verlag 1989, S. 4.
  • Thiele, Jens: Zwischen Bilderbuch und Kunst. Überlegungen zu dem schwierigen Verhältnis von Kind und Kunst im Medium Buch. In: Fragwürdiges Bilderbuch. Blickwechsel – Denkspiele – Bildungspotenziale. München: kopaed 2013, S. 35–52.
  • Weinkauff, Gina/von Glasenapp, Gabriele: Kinder- und Jugendliteratur. 3., erweiterte und aktualisierte Auflage. Paderborn: Ferdinand Schöningh 2018.

Sonstige Quellen (Fernseh- und Hörspielproduktion)

  • Dittmer, Nicole/Stucke, Julius: Kinderbuchautor Wolf Erlbruch. „Ich bin auf der Welt, um mir alles anzuschauen“. In: Deutschlandfunk Kultur, Radiobeitrag aus der Sendung Studio 9, 04.04.2017 [letzter Aufruf: 18.09.2022].

Internetquellen

  • Blei-Hoch, Claudia/Bode, Andreas/Raecke, Renate: Wolf Erlbruch. Jurybegründung Deutscher Jugendliteraturpreis, 2003 [letzter Aufruf: 18.09.2022].
  • Detje, Robin: Zehn Monde blicken traurig. In: DIE ZEIT, Juni 1996 Zeit Nr. 24/1996 [letzter Aufruf: 18.09.2022].
  • Ehmann, Antje: Wolf Erlbruch: Welterfolg mit Bilderbüchern. In: wir eltern. Für Mütter und Väter in der Schweiz [letzter Aufruf: 18.09.2022].
  • Erenz, Benedikt: Zwei Klassiker. Wolf Erlbruchs „Neues ABC-Buch“ mit dem Text von Karl Philipp Moritz wird neu aufgelegt. Endlich. In: Zeit Online, Februar 2018 Zeit Nr. 07/2018 [letzter Aufruf: 18.09.2022].
  • Platthaus, Andreas: Wolf Erlbruch. Die Welt aus Wuppertaler Perspektive. In: Goethe Institut, April 2017 [letzter Aufruf: 18.09.2022].
  • Schnettler, Silke: „Die meisten Kinderbücher sind misslungen“. In: Die Welt, 20.09.2006 [letzter Aufruf: 18.09.2022].