Margret und Rolf Rettich

Margret Rettich
geboren am 23.07.1926 in Stettin, gestorben am 15.05.2013 in Gifhorn
Illustratorin und Kinderbuchautorin

Rolf Rettich
geboren am 09.06.1929, gestorben am 25.10.2009 in Vordorf
Illustrator, Kinderbuchautor und Trickfilmzeichner

Dr. Nadine J. Schmidt
veröffentlicht am 25.04.2021

 

1 Biogramme

Margret Rettich (Foto: Wilhelm W. Reinke)

Margret Rettich (Foto: Wilhelm W. Reinke)

Margret Rettich wurde 1926 in Stettin geboren. Sie studierte Werbegraphik und freie Graphik an der Kunsthochschule in Erfurt. Anschließend war sie freiberuflich tätig u. a. in der Werbebranche oder für die Leipziger Buchmesse. Gemeinsam mit ihrem Ehemann Rolf Rettich, geboren 1929 in Vordorf, eröffnete sie in Leipzig zunächst ein Atelier. Im Jahre 1960 siedelte das Paar dann in die Bundesrepublik Deutschland nach Vordorf im Landkreis Gifhorn (Niedersachsen) über. Nachdem sie bereits zahlreiche Bücher diverser Autor:innen illustriert hatte und in Werbung, Printmedien sowie Fernsehen produktiv war, begann Margret, erzählende Bücher für Kinder und Jugendliche zu veröffentlichen, oft gemeinsam mit ihrem Mann. Dabei ging das Ehepaar zumeist arbeitsteilig vor: Margret war überwiegend für die literarischen Texte zuständig, während Rolf zu den Werken die entsprechenden Zeichnungen anfertigte (oder umgekehrt). Insbesondere mit ihren Geschichten über Jan und Julia wurde Margret als Schriftstellerin für Kinder sehr erfolgreich.

Rolf Rettich (Foto: Wilhelm W. Reinke)

Rolf Rettich (Foto: Wilhelm W. Reinke)

Rolf Rettich absolvierte zunächst eine Ausbildung zum Vermessungstechniker. Als Illustrator und Kinderbuchautor kam er autodidaktisch zu seinem späteren Beruf. Er illustrierte unter vielen anderen Büchern die literarischen Werke von James Krüss, Astrid Lindgren, Michael Ende und Christine Nöstlinger. Er schrieb ebenfalls gelegentlich Kinderbücher wie Großelternkind oder Der kleine Bär. Gemeinsam mit seiner Frau publizierte er Bildergeschichten, die bisweilen auch verfilmt wurden, v. a. für die bekannte Fernsehsendung Sendung mit der Maus.

Für ihr Gesamtwerk erhielten Margret und Rolf Rettich 1997 den Großen Preis der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur. 1981 erhielt Margret Rettich den Deutschen Jugendliteraturpreis in der Kategorie Bilderbuch für Die Reise mit der Jolle, 2001 den Deutschen Musikeditionspreis. Das Bilderbuch Erzähl mal, wie es früher war kam 1983 auf die Auswahlliste des Deutschen Jugendliteraturpreises. Rolf Rettich erhielt Ehrungen für mehrere seiner Bücher von der Stiftung Buchkunst im Rahmen der „Schönsten deutschen Bücher des Jahres“. Für Der kleine Bär erhielt er den Ehrenpreis im Internationalen Bilderbuchwettbewerb. Seit 2002 heißt die Grundschule in Vordorf, dem langjährigen Wohnort des Ehepaars Rettich, „Margret-und-Rolf-Rettich-Schule“.

 

2 Überblick über das Werk (Auswahl)

2.1 Illustrationen

Lindgren/Rettich: Ich will auch in die Schule gehen (Oetinger 1964)

Lindgren: Ich will auch in die Schule gehen (Oetinger 1964)

Lindgren/Rettich: Pippi feiert Geburtstag (Oetinger 1999)

Lindgren: Pippi feiert Geburtstag (Oetinger 1999)

Im Laufe der 1960er-Jahre avancierten Margret und Rolf Rettich zu den bekanntesten deutschsprachigen Illustrator:innen. Das Ehepaar versah die literarischen Werke von berühmten Autor:innen wie Astrid Lindgren (Ich will auch in die Schule gehen, Pippi Langstumpf) oder James Krüss (z. B. Der Leuchtturm auf den Hummerklippen) mit filigranen und „unverwechselbaren Zeichnungen“ (Stephan 2013, o. S.). Aus gegenwärtiger Perspektive ist deutlich zu erkennen, welche Pionierleistung dieser imposante „frische, fröhliche, ganz unbetuliche Strich“ (ebd.) war. In ihren feinstrichigen, subtilen und expressiven Zeichnungen, aber auch in ihren literarischen Texten, „blitzt das […] Chaos als Urgrund des Epischen, die Lust am ‚schönen Durcheinander‘“ (ebd.) stets von Neuem auf. Bei den visuellen Kunstwerken des Ehepaars handelt es sich größtenteils um eindrückliche, sehr schwungvolle, leichte, zarte und harmonische Buntstift- und Bleichstiftstriche (bzw. Aquarellzeichnungen), die eine besondere Liebe zum Detail erkennen lassen und gerade durch ihren ausgeprägten Feinsinn und ihre Virtuosität besonders überzeugen.

2.2 Bilderbuchgeschichten

Rettich: Die Geschichte vom Wasserfall (Baeschlin 1973)

Die Geschichte vom Wasserfall (Baeschlin 1973)

Margret Rettich war eine leidenschaftliche Geschichtenschreiberin, deren Texte oft ihr Mann illustrierte. Sie begann bereits in den 1970er-Jahren, eigene Bilderbücher zu entwerfen: Zinnober in der grauen Stadt (1973) oder Die Geschichte vom Wasserfall (1974) sind zwei Beispiele hierfür. Dass aber auch ihre literarischen Figuren gerne (historische) Geschichten erzählen, die sie weitergeben wollen, veranschaulicht paradigmatisch die Wasserfall-Geschichte mit ihren farbintensiven naturalistischen Gemälden von Rolf Rettich: Es ist die Geschichte einer armen Schweizer Bergbauernfamilie, die um 1900 nach Amerika emigriert. Sie leidet dort allerdings sehr unter den harten Lebensbedingungen und alle verspüren ein großes Heimweh nach den Bergen. Den Vater aber hat der Niagara-Wasserfall sehr inspiriert, und als die Familie wieder in der Schweiz lebt, um sich dort ein neues Leben aufzubauen, hat er nur ein Ziel: Er möchte den Wasserfall in der Heimat freilegen, denn damit verspricht er sich finanziellen Segen:

Sieben lange Jahre. Achttausend Sprengladungen hatte mein Vater gezündet. Dann hatten wir es endlich geschafft. […] Bald kamen die ersten Leute aus dem Tal, um unseren Wasserfall zu sehen. Staunend sahen sie den Gang im Fels. Es sprach sich schnell in der Gegend herum, daß unser Gasthaus nun etwas Besonderes war. Es hatte einen Wasserfall. Da kamen die Leute von weit her, um ihn zu sehen. Sie kehrten ein, aßen und tranken und viele blieben auch über Nacht. Einige kamen sogar aus Amerika. (Rettich 1973, o. S.)

Historische Stoffe waren schon früh ein besonderes Thema bei Margret Rettich, und deren Präsenz zieht sich durch ihr gesamtes Werk: Im Jahre 1984 beispielsweise veröffentlichte sie ein Bilderbuch über Soliman, den reisenden Elefanten, der 1551 in einem festlichen Umzug durch viele Länder zog.

Rettich: Hast du Worte? (Ravensburger 1972)

Hast du Worte? (Ravensburger 1972)

Darüber hinaus stellte die Autorin schon früh etliche Bildergeschichten zusammen, die häufig von ihrem Mann illustriert wurden, z. B.: Hast du Worte (1972), Was ist hier los? (1975), Von früh bis spät Radieschen (1976), Kennst Du Robert? (1978) oder Neues von Hase und Igel (1979). Die lustigen, mitunter auch nachdenklichen und pointenhaft zugespitzten Bildergeschichten laden dazu ein, sich gemeinsam Geschichten auszudenken, und bieten viel handlungsorientiertes Potential für literarische Anschlusskommunikationen.

Rettich: Ich wäre gern auf einem Stern (Ravensburger 1976)

Ich wäre gern auf einem Stern (Ravensburger 1976)

Dass das Ehepaar Rettich aber nicht nur Prosageschichten mit einem ‚wahren‘ historischen Kern favorisierte, sondern auch phantasievolle Texte in Versen verfasste und illustrierte, veranschaulicht neben dem Sammelband Schrecklich schöne Schauergeschichten (1978) auch das Wunschbilderbuch Ich wäre gern auf einem Stern (1976), das die jungen Rezipient:innen in einprägsamen, sprachspielerischen und humorvollen Reimen auf traumhafte Reisen begleitet, die stets mit der Wiederholungsstruktur „Neulich“ anfangen. Dabei wird schnell ersichtlich: Für einen Moment scheinen diese Wünsche, die auch über die farbintensiven, kreativen und überraschenden Bilderphantasie voll dargestellt werden, zwar sehr interessant und spannend, in den meisten Fällen jedoch ist es offenbar nicht schlecht, dass es sich dabei ‚nur‘ um Phantasiegedanken handelt, die entweder schwer zu realisieren sind oder aber diverse Probleme aufwerfen. Ein nachdenklicher Kern schwingt daher stets mit: „Ich wünschte mich manchmal nach Afrika. Aber wäre ich da, wünschte ich mich bestimmt zurück. Darum habe ich Glück: Mancher Wunsch ist gar zu verdreht, als daß er in Erfüllung geht“ (Rettich 1976, Vorsatzpapier).

Rettich: Die Reise mit der Jolle (Ravensburger 1980)

Die Reise mit der Jolle (Ravensburger 1980)

Die vom Deutschen Jugendliteraturpreis für Text und Illustration ausgezeichnete Bilderbuchgeschichte Die Reise mit der Jolle (1980) spielt in fernen Zeiten auf der Insel Norderney: „Damals vor dreihundert Jahren, gab es weder Autos noch Flugzeuge. Es gab weder Fernsehen oder Radio noch Telefon. Es gab auch kein elektrisches Licht und kein Wasser aus der Leitung“ (Rettich 1980, o. S.). Die Geschichte, die die Autorin selbst geschrieben und illustriert hat, beruft sich auf ein historisches Ereignis aus dem Jahre 1686. Der vaterlose Lütt Johann möchte den Norderney-Fischern seine Berufstauglichkeit unter Beweis stellen, um als vollwertiges Mitglied in ihre Fischer-Gemeinschaft aufgenommen zu werden. Alsdann beginnt für ihn, seinem Freund Willem und seiner kleinen Schwester Annecke eine abenteuerliche, gefährliche Fahrt, während der sich die Kinder nicht nur beweisen, sondern auch immer wieder ihr Leben beschützen müssen. Der Autorin, so die Jurybegründung des DJLP, sei ein Bilderbuch

in ausgewogener Bild-Text-Verbindung gelungen. Die zart aquarellierten Bilder im Groß- und Kleinformat, mit liebevollen Details, regen zur Betrachtung an und vermitteln atmosphärische Dichte. Trotz des historischen Abstands hat das Geschehen nichts an Aktualität und Spannung eingebüßt; der Leser kann sich mit den Kindern identifizieren und an ihren Wünschen, Ängsten und Freuden teilnehmen. (Jurybegründung DJLP)

Margret Rettich favorisierte, wie bereits deutlich geworden ist, über Jahrzehnte hinweg historische Geschichten und Schwänke in fröhlicher Reim- und Prosaform – was v. a. auch der in Niedersachsen spielende Schwank Wittkopp. Von einem Ochsen, der Bürgermeister wurde (1983) veranschaulicht. Sie verlagerte ihren erzählerischen Handlungsort immer wieder in die ferne Vorzeit. Susanne Stephan betont im Jahre 2013:

[D]ass Margret Rettich die „gute alte Zeit“ […] nicht zu idyllisch gesehen hat, zeigt z. B. das Bilderbuch Komm, wir drehen die Zeit zurück mit wunderschönen Tableaus, auf denen dargestellt ist, wie sich eine Landschaft – immer die gleiche Flusslandschaft mit einem Berg – im Laufe von 2000 Jahren verändert hat. Es gibt kaum einen anschaulicheren Geschichtsunterricht! (Stephan 2013, o. S.)

Rettich: Komm, wir drehen die Zeit zurück (Betz 1985)

Komm, wir drehen die Zeit zurück (Betz 1985)

In der Rahmenhandlung des Buches Komm, wir drehen die Zeit zurück (1985), das fiktionale Erzählungen mit faktualen Informationen geschickt verknüpft, gehen die Eltern von Kati und Nils mit ihren Kindern ins Museum. Von der Germanenzeit bis zum modernen Industriezeitalter, in dem Hochhäuser, Fabriken, Ruß und Abgase präsent sind, durchreist die Familie die lange Vergangenheit. Die jungen Leser:innen werden im Werk mit wichtigen Sachinformationen in Form von Aufschriften auf Tafeln vor den Vitrinen über die Gegenstände aufgeklärt. Doch viele Fragen kann niemand mehr beantworten: „Das weiß Mama nicht. Das weiß niemand mehr“ (Rettich 1985, S. 6). Jede Zeit-Reise endet mit derselben unbefriedigenden Antwort, die leitfadenartig in wiederkehrender Struktur zum Anlass genommen wird, um nicht nur Informationen über die damalige Zeit zu geben, sondern die Rezipient:innen auch in eine fiktionale Welt zu entführen, die diese Fragen auf ihre eigene Art und Weise zu beantworten vermag. In den begleitenden kleinen Erzählungen wird immer eine Familie aus der jeweiligen Epoche vorgestellt, und auch die Landschaften auf den detailreichen und eindrücklichen bildlichen Darstellungen ändern sich jedes Mal gemäß der Epochen-Reise.

Rettich Der kleine Bär (Oetinger 1989)

Der kleine Bär (Oetinger 1989)

Das Bilderbuch Der kleine Bär (1989) mit einer Geschichte von Margret Rettich und filigranen mono- und pluriszenischen Illustrationen von Rolf Rettich schaffte es auf die Ehrenliste des Internationalen Bilderbuchpreises. In typisch Rettich’scher Manier schwingt ein latenter moralerzieherischer Duktus stets mit, der aber nur eine Komponente in der ansonsten eingängig erzählten und mit sprachlichen Wiederholungsstrukturen arbeitenden Geschichte einnimmt. Der kleine Bär, der von seinen Eltern immer wieder vor den Gefahren, die in der weiten Welt auf ihn lauern, gewarnt wird, ist ein typischer Junge, der sich gerne ausprobieren möchte, neugierig auf die Welt ist und eben nicht vor allen Gefahren geschützt werden will und kann, weil das Sich-Ausprobieren in entwicklungspsychologischer Sicht zum Erwachsenwerden dazugehört: „Der kleine Bär hatte es wirklich gut, aber er war unzufrieden. Er wollte nicht immer in der Bärenhöhle sein. Er wollte sich mal die weite Welt angucken. Doch Bärenvater und Bärenmutter erlaubten es nicht“ (Rettich 1989, o. S.). So ist der kleine Ausreißer sehr stolz darauf, dass er vor vielen Dingen, vor denen ihn die Eltern gewarnt haben, verschont geblieben ist. Auch wenn sich der kleine Bär am Ende wehtut (aus der Erwachsenenperspektive gehört diese Komponente zur Geschichte unabdingbar als kleine ‚Lehre‘ dazu), träumt er weiterhin von der weiten, winzig kleinen Welt“ (o. S.), die er irgendwann sicherlich besser kennenlernen wird. Vorerst aber, so vermittelt es die narrative Sinnkonstruktion, ist er bei seinen Eltern sicherer, und auch sie brauchen ihren kleinen Jungen. So handelt es sich um ein gegenseitiges Geben- und Nehmen in der Eltern-Kind-Beziehung, aber auch um ein harmonisches Geborgensein.

2.3 Längere Geschichten und Kinderromane

Rettich: 20 Geschichten von Jan und Julia (Oetinger 1998)

20 Geschichten von Jan und Julia (Oetinger 1998)

Die ersten amüsanten und bekannten Alltagsgeschichten rund um Jan und Julia für Kinder im Kindergartenalter erschienen bereits ab 1973 in Bilderbuchform, wurden wiederholt neu aufgelegt, in mehrere Sprachen übersetzt (u. a. ins Dänische) und waren insgesamt sehr erfolgreich. Es handelt sich um einfach erzählte Geschichten des alltäglichen Familienlebens (das erste Alleinsein, der erste Zirkusbesuch, Haustiere, Kranksein, Einkäufe, Schule, Weihnachten, Streit usw.). Auf kindgemäße Weise werden alltagsnahe Situationen und gewöhnliche Probleme dargestellt und gelöst – dabei sind die locker-leichte, unprätentiöse Erzählsprache und der kurze, parataktische Satzbau (einschließlich der parallelen Syntax) auch für geübte Leseanfänger:innen geeignet. Im Jahre 1998 wurde ein Sammelband der Klassikerreihe veröffentlicht, der 20 Abenteuer der beiden Geschwister enthält, die bewusst völlig unprätentiös dargestellt sind und von der übergeordneten Erzählinstanz nicht als ungewöhnliche ‚Überkinder‘ präsentiert werden, sondern sie sind ganz ‚normal‘: Sie können unordentlich sein, zanken sich bisweilen, lernen ‚böse‘ Wörter kennen oder stibitzen sogar einen Schokoriegel aus dem Supermarkt (vgl. z. B. „Jan und Julia sind feine Leute und Jan und Julia mopsen was“). In der erzählerischen Inszenierung des Textes wird die Alltäglichkeit der Geschichten auch deutlich hervorgehoben:

Es gibt viele Kinder
wie Jan und Julia.
Viele solche Eltern gibt es auch.
Und überall gibt es solche Geschichten
wie diese hier. Wie die
GESCHICHTEN VON JAN UND JULIA.
(Rettich 1998, S. 11)

Erzieherische Implikationen in Form von Weisheiten und Pointen, die zum Nachdenken anregen sollen, schwingen am Schluss latent mit, ohne die Geschichten aber damit allzu dominant zu prägen. Dennoch ist ein moralischer Zeigefingergestus noch deutlich zu spüren. Für die filigranen, liebevoll ausgestalteten und unbetulich wirkenden Zeichnungen war Margret selbst zuständig; später allerdings folgten Neuillustrationen u. a. von Catharina Westphal.

Rettich: Das verborgte Mäxchen (Betz 1990)

Das verborgte Mäxchen (Betz 1990)

Rettichs Vorliebe für „wirklich[e]“ und „wahrhaftig passiert[e]“ (Rettich 1990a, S. 5) märchenhafte Geschichten spiegelt sich auch in Das verborgte Mäxchen. Eine neue wahre Weihnachtgeschichte aus dem Jahre 1990 wider. Für die Schwarz-Weiß-Illustrationen war, wie so oft, Rolf Rettich zuständig. Die beiden Freundinnen Emmeli und Flora wünschen sich beide sehnlichst einen Bruder und sie haben sogar schon einen Namen für ihren jeweiligen Wunschbruder parat. Doch eines Tages erfüllt sich nur Emmelis Traum: Ihre Mutter wird schwanger und bekommt einen Jungen, der zwar nicht Mäxchen heißt, den Emmeli aber liebevoll so nennt. Floras Mutter allerdings erwartet kein Baby, denn die Eltern möchten kein Kind mehr und Flora fühlt sich hintergangen, ist eifersüchtig, redet nicht mehr mit ihrer Freundin und kann mit der Gesamtsituation einfach nicht umgehen. Bis Emmeli dann zu Weihnachten auf die verrückte Idee kommt, dem Weihnachtsmann das Baby zu überlassen, damit es über die Weihnachtszeit bei Floras Familie sein kann. Doch ihre Eltern sind nicht eingeweiht und suchen verzweifelt nach dem Säugling. In sprachlicher Hinsicht wird, wie es so oft bei Rettich der Fall ist, besonders auf noch wenig geübte Leseanfänger:innen Rücksicht genommen, und vor allem die parallele Syntax sowie die Wortwiederholungen erleichtern das Selberlesen.

Rettich: Neue wahre Weihnachtgeschichten (Betz 1986)

Wirklich wahre Weihnachtgeschichten (Betz 1986)

Im Jahre 2017 erschien zugleich eine neu zusammengestellte Sonderausgabe der Weihnachtsgeschichten, basierend auf den Erzählbänden Wirklich wahre Weihnachtsgeschichten (1976) und Neue wahre Weihnachtsgeschichten (1986). Die 24 kurzen und auf eine Pointe abzielenden Geschichten sind thematisch breit gestreut, auf eine wohldosierte Art und Weise lehrreich, lustig und nachdenklich, in einer klaren, lakonisch-ironischen Sprache verfasst und streifen Weihnachten mitunter nur am Rande. So zeigen die märchenhaften Geschichten – wie z. B. in Die Geschichte vom Lamettabaum –, dass Charaktereigenschaften wie Hochmut und Eingebildetheit nicht davor schützen, vom Schicksal bestraft zu werden, oder dass, wie in Die neugierige Geschichte, auch Gier und Unbeherrschtheit den Menschen zu einem großen Verhängnis werden können.

Rettich: Tierpraxis Doktor Schimmel (Loewe 1983)

Tierpraxis Doktor Schimmel (Loewe 1983)

Die lustigen, erfindungsreichen Kurzgeschichten rund um den Tierarzt Doktor Schimmel mit den humorvollen Schwarz-Weiß-Zeichnungen von Rolf Rettich sind in den 1980er-Jahren erschienen. Die Tiere kommen wegen ganz unterschiedlicher Probleme in die Praxis und der ‚tierische‘ Arzt hat immer ein passendes Rezept für alle parat. In einem lakonisch-humorvollen und lockeren Erzählstil wird wiederholt auf die Nichtigkeit so mancher ‚tierischer‘ Probleme aufmerksam gemacht und die Unzufriedenheit der Tiere wegen ihres Äußeren beispielsweise auf eine humorvolle Art entlarvt: „Machen Sie das Beste draus. Sicher hat es auch Vorteile, so winzig zu sein und nicht gleich entdeckt zu werden“ (Rettich 1980, S. 38).
Ein dicker Dackel, der nicht abnehmen will, sondern nur längere Beine möchte, ein erschöpfter Wellensittich, der es nur einmal raus in die Freiheit gewagt hat, ein Hase, der Schokoladeneier legen möchte, ein Igel, der keine Stacheln mehr will, usw.: Für jedes noch so verrückte Anliegen hält Doktor Schimmel einen kreativen Tipp bereit und die Rezipient:innen spüren die Seitenhiebe einer übergeordneten Erzählinstanz, wenn deutlich wird, dass die Tiere oftmals ‚nur‘ unzufrieden mit sich selbst sind und jemanden brauchen, mit dem sie sprechen können. So ist Doktor Schimmel mitunter nicht nur ein Arzt für körperliche Schmerzen, sondern auch besonders ein psychologischer Ratgeber.

Rettich: Die Rabenschwarze (Ueberreuter 1993)

Die Rabenschwarze (Ueberreuter 1993)

Die traurige Katzengeschichte Die Rabenschwarze (1993) ist neben den Weihnachtsgeschichten und dem Doppelband der Briefgeschichten von Onkel Felix und Kati (Extrapost für Kati und Eilbriefe für Onkel Felix) eines der umfangreicheren Werke von Margret Rettich. Die ergreifende, spannende Erzählweise regt die literarische Vorstellungsbildung in besonderem Maße an und die Rezipient:innen erfahren aus der personalen Erzählperspektive der gefleckten Mutterkatze und der rabenschwarzen Katze nicht nur, was unerbittliche, bis an ihre Grenzen gehende Mutterliebe bedeutet (hier steht die Liebe der beiden Katzenmütter zu ihren Katzenkindern sinnbildlich für die Liebe zu den eigenen Kindern schlechthin), sondern auch, dass irgendwann die Zeit gekommen ist, um loszulassen. Die tierische Hauptfigur stellt die rabenschwarze Katze dar, die sich ihr Leben lang durchkämpfen muss und nicht nur immer wieder ihr eigenes Leben rettet, sondern auch das ihrer eigenen Kinder – allen voran das ihres Sorgenkindes: des „Winzlings“.

Eine Eisenstange stieß gegen ihre Brust, in die Seiten und vor den Kopf. Sie wälzte sich auf die Katzenkinder und versuchte, sie zu schützen. Die Stange traf ihre empfindlichen Zitzen.
Die Rabenschwarze kreischte. Sie drehte und wand sich, um den Stößen zu entgehen. Dabei ließ sie sich immer weiter durch das Rohr treiben, immer weiter auf die andere Seite zu. Die Eisenstange war überall, sie ließ nicht nach. Und überall waren die Kleinen. Sie wurden gequetscht und getreten und manchmal getroffen. […]
Die Rabenschwarze schrieb vor Wut. Sie schlug ihre Krallen in das Holz. Sie raste, sie tobte. Sie gab nicht mehr acht, wohin sie trat. Sie stieß gegen die winselnden Katzenkinder.
(Rettich 1993, S. 99)

Das Vertrauen zu den Menschen hat die Rabenschwarze nie gewinnen können – wahrscheinlich, weil ihre Mutter selbst damals schlechte Erfahrungen mit den Menschen gesammelt hat. Ihre eigenen Kinder sind diesen Weg allerdings gegangen: die gesunden Katzen aus Zufall und Glück und die kleine Katze mit der körperlich (geistigen) Entwicklungsverzögerung indes interessanterweise aus eigener Klugheit und Raffinesse heraus. Die Rabenschwarze hegt noch für eine lange Zeit ein großes Misstrauen gegenüber den Menschen, bis sie schließlich feststellen muss, dass es ihren Kindern wirklich gut zu gehen scheint. Doch sie muss am Ende genau dann ihr Leben lassen, als sie sich selbst richtig ‚frei‘ fühlt. Ihr Leben stand damit stets im Dienst ihrer Kinder. Die Sprache ist einfach gehalten, dennoch aber ist die Geschichte so dramatisch, abenteuerreich, emotional berührend und eindringlich geschrieben worden, dass nicht nur Kinder diese Katzengeschichte lesen können, sondern auch erwachsene Leser:innen zum Nachdenken angeregt werden und mit Blick auf eine subjektive Involviertheit vielleicht Parallelen zum eigenen Elterndasein widergespiegelt finden.

Rettich: Als Matti mal ein Engel war (Ueberreuter 2000)

Als Matti mal ein Engel war (Ueberreuter 2000)

Dass Margret Rettich Weihnachtsgeschichten für Kinder besonders am Herzen lagen, veranschaulicht ebenfalls das Buch Als Matti mal ein Engel war, das 2000 erstmals erschien und von Uli Gleis illustriert wurde. In einem metafiktionalen Kommentar zu Beginn des literarischen Textes, der in kurze Kapitel eingeteilt ist, gibt die übergreifende Erzählinstanz an, dass das Werk für Kinder gedacht ist, die „nicht mehr so richtig“ (Rettich 2000, S. 5) an den Weihnachtsmann glauben: „Liebe Kinder, falls ihr noch an den Weihnachtsmann glaubt, lest bitte nicht weiter“ (S. 5). Der Junge Matti ist 8 Jahre alt, steckt in den Geschichten in einem Weihnachtsengel-Kostüm und muss Arne, seinem ‚Ersatzvater‘, der sich als Weihnachtsmann verkleidet, auf seinen Touren begleiten. Die beiden Helfer bekommen Zettel, die sie abarbeiten müssen, und schon die erste „Zettel“-Geschichte „Chefsache“ zeigt, dass lustige, stimmungsvolle und vergnügliche Abenteuer dabei sind, denn offenbar buchen auch die Erwachsenen einen Weihnachtsmann, mit dem sie sich selbst eine Freude bereiten möchten.
In der Rahmenhandlung wiederum werden diverse problemsensible Themen aufgegriffen: Die Mutter arbeitet viel, hat sehr wenig Zeit für Matti, sein Vater ist vor langer Zeit verschwunden und ein Student, der allerdings auch zunehmend weniger Zeit hat, weil er offenbar eine neue Freundin hat, kümmert sich um den Jungen. Am Ende allerdings – wieder in der Rahmenhandlung – wird in der harmonischen Weihnachtsgeschichte mit Happy End der geheime „Traum“ (S. 93) von Matti wahr und seine Mutter und Arne kommen zusammen.

2.4 Erstleseliteratur

Rettich: Leselöwen Dorfgeschichten (Loewe 1978)

Leselöwen Dorfgeschichten (Loewe 1978)

Rettich: Margret Rettichs Lesebilderbuch - Pitt, der freche Seeräuber (Gondolino 2002)

Margret Rettichs Lesebilderbuch: Pitt, der freche Seeräuber (Gondolino 2002)

Margret Rettich hat auch – bisweilen gemeinsam mit ihrem Ehemann – zahlreiche Erstlesebücher für „kleine Leser“ (vgl. Friedchen Fliege) geschrieben und illustriert, die in Layout, formaler, sprachlicher und inhaltlich-narrativer Gestaltung abhängig vom jeweiligen Verlagskonzept gestaltet wurden. Seit den 1980er-Jahren bis in die 2000er-Jahre hinein erschienen alleine im Loewe-Verlag in den beiden Reihen RiRaRutsch. Mit Bildern lesen und lernen und Leselöwen über 20 Bücher von Margret Rettich. Im Verlag Gondolino wurden ab 2001 circa 15 Bände von Margret Rettich’s Lesebilderbuch veröffentlicht, in denen Vignetten die Hauptwörter ersetzen. Im Hamburger Oetinger-Verlag indes publizierte Margret in den Reihen Laterne, Laterne und Sonne, Mond und Sterne – hier insbesondere für geübtere Leseanfänger:innen. Ihre Erstlesebücher umfassen eine ganze Bandbreite an verschiedensten Themen, die spannend aufbereitet werden (Piraten, Seeräuber, Dorfgeschichten, Tierkrimis, Werd-gesund-Geschichten u. v. m.). Auch wenn das Format der Erstleseliteratur nur begrenzte Möglichkeiten mit Blick auf das literarästhetische Entfaltungspotential bereithält, schafft es Rettich, mit viel latentem Sprachwitz und Sprachspielen (auch v. a. mit Hilfe von diversen Wiederholungsmustern) Lust auf die ästhetische Dimension von Literatur zu wecken:

Rettich: Von ruppigen, struppigen Seeräubern (Oetinger 1983)

Rettich: Von ruppigen, struppigen Seeräubern (Oetinger 1983)

Weil Opa so geladen war, ließ er seine schlechte Laune an Till aus. Alles störte ihn. Till durfte nicht in der Nase popeln, er durfte nicht schmatzen, er durfte nicht Nägel kauen, er durfte sich nicht kratzen. Es war viel, viel schlimmer als bei Oma. Alle paar Tage kreuzte der Dampfer auf. Die Leute drängten und schoben über die winzig kleine Insel, verschwanden wieder und hinterließen ihre Imbißreste. Till und Opa litten keine Not. Trotzdem war es nicht das wilde, freie Seeräuberleben, das sie sich vorgestellt hatten. Kein einziges Mal hatten sie bisher so richtig geraubt. (Rettich 1983b, S. 53 f.)

 

Auf der Bildebene fällt auf, dass sowohl die Schwarz-Weiß-Illustrationen als auch die farbigen Bilder nicht nur im gewohnten feingliedrigen expressiven Stil gezeichnet sind, sondern dass sie vielfach auch über die Textebene hinausgehen, indem sie insbesondere die Mimik und Gestik der literarischen Figuren gekonnt einfangen und sich somit auf ein virtuoses Spiel mit der Verknüpfung von verbaler und visueller Ebene einlassen – so wie auch Margret und Rolf Rettich stets ihre schriftstellerischen und bildkünstlerischen Talente in Verbindung gebracht haben.

 

Literaturverzeichnis

Primärliteratur (Auswahl)

  • Komm mit. Pappbilderbuch. Hamburg: Oetinger 1971.
  • Hast Du Worte? Ravensburg: Otto Maier 1972.
  • Ich weiß, was Du bist. Hamburg: Oetinger 1972.
  • Die Geschichte vom Wasserfall. Ein Bilderbuch. Glarus: Baeschlin 1973.
  • Jan und Julia. Kinderbuch-Reihe. Hamburg: Oetinger (ab 1973 wiederholt neu aufgelegt – mehrere Bände).
  • Zinnober in der grauen Stadt. Ravensburg: Otto Maier 1974.
  • Was ist hier los? Bildergeschichten. Ravensburg: Otto Maier1975.
  • Ich wäre gern auf einem Stern. Ravensburg: Otto Maier 1976.
  • Von früh bis spät Radieschen. Erste Bildergeschichten. Ravensburg: Otto Maier 1976.
  • Wirklich wahre Weihnachtsgeschichten. München: Betz 1976 (Neuausgabe: Berlin: Ueberreuter 2017).
  • Kennst Du Robert? Bildergeschichten Ravensburg: Otto Maier 1978.
  • Schrecklich schöne Schauergeschichten. Wien, München: Betz 1978.
  • Extrapost für Kati. Eilbriefe für Onkel Felix. Bertelsmann u. a. 1979.
  • Neues von Hase und Igel. Tiergeschichten ohne Worte. Ravensburg: Otto Maier 1979.
  • Die Reise mit der Jolle. Ein Bilderbuch von Margret Rettich. Ravensburg: Otto Maier 1980.
  • Tierpraxis Doktor Schimmel. Bayreuth: Loewes 1980.
  • Die Geschichte von Elsie. Wien: Betz 1981.
  • Eilbriefe für Onkel Felix. Bayreuth: Loewes 1981.
  • Freitag ging alles schief. Eine Woche mit Franzel und Nanni. München: dtv 1981.
  • Gesagt ist gesagt. Allerlei Sinn und Unsinn von Karli und Stine. Hamburg: Oetinger 1981.
  • Tierpraxis Doktor Schimmel und Fräulein Maus. Neue Geschichten von einem ganz besonderen Arzt und seine Patienten. Bindlach: Loewe 1983a.
  • Von ruppigen, struppigen Seeräubern. Hamburg: Oetinger 1983b.
  • Von einem Ochsen, der Bürgermeister wurde. Nach einem alten Niedersachsen-Schwank. Mit fröhlichen Bildern. München: dtv junior 1983c.
  • Soliman der Elefant. Bilderbuch. Ravensburg: Otto Maier 1984.
  • Komm, wir drehen die Zeit zurück. Wien: Betz 1985.
  • Von früher, jetzt und irgendwo. Hamburg: Oetinger 1986.
  • Neue wahre Weihnachtsgeschichten. Wien, München: Betz 1986.
  • Friedchen Fliege. 2. Abenteuer: Abenteuer im Wald / Der unfreiwillige Ausflug. Bindlbach: Loewe 1988.
  • Der kleine Bär. Eine Geschichte. Hamburg: Oetinger 1989.
  • Das verborgte Mäxchen. Eine neue wahre Weihnachtsgeschichte. Wien, München: Betz 1990a.
  • Die Briefkastenoma. Mödling-Wien: St. Gabriel 1992.
  • Die Rabenschwarze. Eine Katzengeschichte. Wien: Ueberreuter 1993.
  • 20 Geschichten von Jan und Julia. Hamburg: Oetinger 1998.
  • Als Matti mal ein Engel war. Wien: Ueberreuter 2000.
  • Jan und Julia. Die schönsten Geschichten. Hamburg: Oetinger 2004.
  • Malen und zeichnen ganz leicht. Bindlach: gondolino 2013.

Internetquellen

  • Stephan, Susanne: Margret Rettich (1926–2013): Ihre Kinderbücher in der Universitätsbibliothek Braunschweig. Rede zur Eröffnung der Ausstellung am 28. November 2013. In: susannestephan.de, 2013 [letzter Aufruf: 28.11.2020].
  • Jurybegründung Deutscher Jugendliteraturpreis zu Die Reise mit der Jolle. In: jugendliteratur.org, 1981 [letzter Aufruf: 28.11.2020].
  • Kinderbuchautorin und Illustratorin Margret Rettich gestorben. In: kinderundjugendmedien.de, 2013 [letzter Aufruf: 28.11.2020].