Renate Welsh(-Rabady)

geboren am 22. Dezember 1937 in Wien
Schriftstellerin, Übersetzerin, Schreibcoach (für Kinder, Jugendliche und Erwachsene)

HS-Prof. Mag. Dr. Sabine Fuchs
veröffentlicht am 02.05.2023

 

1 Biogramm

Renate Welsh

Renate Welsh (Foto: © PH Steiermark)

Als erste Tochter des Arztes Dr. Nobert Redtenbacher musste Renate Welsh als Vierjährige den Tod ihrer Mutter Elisabeth, die an einem Hirntumor verstarb, verarbeiten, wobei sie auch mit diffusen Schuldgefühlen kämpfte. Eine weitere Erschütterung erfolgte, als sie wegen der stärker werdenden Bombardierungen 1943 aus Wien, und damit auch weg von den Großeltern und ohne den Vater, mit ihrer Stiefmutter nach Bad Aussee zu deren Familie übersiedelte. Hier beginnt sie auf eigenen Wunsch schon ab dem fünften Lebensjahr mit dem Schulbesuch, den sie nach dem Ende des 2. Weltkrieges in Wien auf dem Gymnasium weiterführte. 1953 ging sie für ein Jahr als Austauschschülerin nach Portland in Oregon/USA, wo sie ihren ersten Abschluss (High-School-Graduation) ablegte. Zurück in Österreich absolvierte sie auch hier ihre Matura und begann 1955 an der Universität Wien Englisch, Spanisch und Staatswissenschaften zu studieren. Dieses brach sie nach ihrer Heirat 1956 ab, begann nebenberuflich, später als freischaffende Übersetzerin beim British Council zu arbeiten. 1958, 1959 kamen die ersten Söhne und 1962 der dritte in einer zweiten Ehe mit einem schottischen Musiker zur Welt. Seit 1997/2000 ist sie mit Shiraz Rabady, einem Arzt, verheiratet und lebt in Wien.

Ein längerer Krankenhausaufenthalt 1968 nach einem Sturz von einem Aprikosenbaum, von ihr  „Marillensturz“ genannt, wurde zum Auslöser für das eigene Schreiben. Gleich ihr erstes Werk Der Enkel des Löwenjägers wurde in die Ehrenliste zum Österreichischen Staatspreis 1970 aufgenommen. Ab 1968 erscheinen auch literarische Übersetzungen aus dem Englischen z.B. von Richard Gordon, James A. Michener, Mildred Lee und Judith Kerr. Seit 1975 arbeitet Welsh als freie Autorin vor allem für Kinder- und Jugendliche, bekannt ist sie aber auch ob ihrer Romane und Erzählungen für Erwachsene. Über das Schreiben reflektiert sie immer wieder, wie etwa bei der Poetik-Vorlesung 1994 an der Universität Innsbruck oder auch in ihren Überlegungen zu ihren Schreibwerkstätten. Ihr soziales Engagement zeigt sich gerade in ihren zahlreichen Schreibwerkstätten, wo sie gemeinsam mit Kindern, Behinderten oder Obdachlosen schreibt, wobei die dabei entstandenen Texte auch publiziert werden. 1992 wurde ihr der Titel Professorin verliehen. Lange Jahre war Renate Welsh Präsidentin von IBBY-Österreich und 2006 folgte sie Milo Dor als Präsidentin der Interessensgemeinschaft Österreichischer Autorinnen und Autoren.

 

2 Kinder- und Jugend-Literatur

Renate Welshs Bücher zeichnet eine genaue Recherche und besonderes psychologisches Einfühlungsvermögen aus. „Beobachtungssinn, Bereitschaft zum Zuhören und Mitleidensfähigkeit sind die Grundlagen ihres Schreibens“, wie Andrea Urbanek zusammenfasst (Urbanek 2007, 3) Ihr besonderes Interesse gilt jenen Menschen – ob Kinder oder Erwachsene – die in der Wohlstandsgesellschaft oft übersehen werden: Alte, Kranke, Behinderte, Frauen und sozial Schwache, Migranten. In ihren literarischen Texten dokumentiert sie Mobbing, Armut, Ausgrenzung oder auch Werteverschiebungen so, dass Leserinnen und Leser einen geschärften Blick entwickeln.

2.1 Phantastische Kinderliteratur

Mit Das Vamperl holt Renate Welsh 1979 das blutsaugende, literarisch-motivisch festgeschriebene Geschöpf ironisch verändert in die Kinderliteratur, der als ihr bekanntestes Figur und dessen Geschichten als Longseller zu bezeichnen sind. Zuerst erschrocken, dann eher neugierig findet nach ihrer Kur die 67-jährige Frau Lizzi in ihrer Küche einen kleinen Vampir, den sie nicht wie angeraten verschwinden lässt, sondern mit Milch aufzieht. Als sich herausstellt, dass dieser kleine Vampir sich statt vom Blut vom Gift aus der Galle zorniger, wütender und böser Menschen ernährt, nennt sie ihn liebevoll „das Vamperl“. Dieses Andere/Fremde verändert ihren und den Alltag ihrer Umgebung, vor allem auch von Thomas, dem Sohn einer Nachbarin, und findet Interesse eines Klinikleiters. Frau Lizzi rettet das Vamperl letztlich vor der Instrumentalisierung als medizinisches Wunder. In Vamperl soll nicht allein bleiben schreibt sich die Autorin selbst ganz gleichberechtigt mit ihrer Figur und auch gleich die Briefe der Leserinnen und Leser in die Geschichte. Frau Lissi besucht die Autorin, damit Vamperl in einer Episode eine Frau erhält:

„Also hören Sie, wenn Sie es nicht wissen … Sie brauchen ihm doch nur eine zu schreiben. Ganz einfach!“ „So einfach ist das nicht“, wehrte ich mich. „Sie sind ja auch nicht mehr bloß die, die ich geschrieben habe. Sie sind Sie selbst geworden.“ …
(Mit Blick auf die Kinderbriefe lässt Welsh Frau Lizzi lesen.)
„Was Kinder alles erleben müssen! So viel Leid. Und dann glauben sie auch, sie wären schuld. Wie die Kleine da, die schreibt, sie braucht ein Vamperl für sich allein, dann ist sie ein Engelchen und alle haben sie lieb. Als ob man nur Engelchen lieb haben könnte.“ (Welsh 2010, 176ff)

Zwei weitere Bücher erzählen von Frau Lizzi und dem Vamperl: Wiedersehen mit Vamperl (1998), in dem Frau Lizzi nach Transilvanien fährt, um Vamperl zu suchen, und Ohne Vamperl geht es nicht (2010), wo sich Frau Lizzi mit Purzel, Vamperls Sohn, auseinandersetzt. Auch wenn diese phantastischen Figuren das Problem „aussaugen“, verweisen alle Szenen auf Gewalt im Alltag, ob familiäre Gewalt, Aggression im Autoverkehr, Mobbing unter Kindern oder Macht missbrauchendes Verhalten im Berufsfeld.

Auch wenn die Lust am Fabulieren deutlich wird, so bleiben die phantastischen Geschichten dem friedlichen, realen Miteinander verpflichtet, ob dies nun die drei Musen sind, die sich in der Ahornstraße niederlassen und dort alles verändern ( … und Terpsi geht zum Zirkus, 1977, später unter Wen die Musen küssen …. der tanzt schon einmal aus der Reihe) oder auch die Reise des kleinen Zwutschg, ein rot behoster Winzling, der in zahlreichen Begegnungen Freundschaft erfährt und zugleich Farben sammelt (Ganz schön bunt, 2013), eine der Bilderbuchgeschichten für jüngere Leserinnen und Leser, die fröhlich endet:

Er [der Zwutschg] fängt an zu lachen und auf und ab zu hüpfen. „Ich hab Freunde!“, schreit er. „Ich hab Freunde, ich hab Farben, und ich hab so eine Freude!“ Der Frosch trommelt auf deinen dicken Bauch, die Libelle sirrt in den höchsten Tönen. Wie ein Kreisel strampft und tanzt der Zwutschg, bis er schwindlig wird und ins Graz fällt und die Welt einen bunten Schweif hinter sich herzieht. (Welsh 2013, 74)

2.2 Realistische Kinder- und Jugend-Literatur

Schon mit ihrem zweiten Roman Ülkü, das fremde Mädchen. Erzählung und Dokumentation von 1973 erweist sich Renate Welsh als gesellschaftliche Missstände aufgreifende Autorin. Das in die fiktive Erzählung montierte dokumentarische Material (Auszüge aus Berichten von Soziologen, Niederschriften von Gesprächen mit Referenten, Polizeirapporte, aus mitgehörten Gesprächen, Erzählungen von türkischen Gastarbeitern u.ä.) verankert diese in die gesellschaftliche Realität. Dieses verleiht den Figuren, sei es die türkischen Gastarbeitertochter Ülkü, die als neue Mitschülerin in die Klasse der Ich-Erzählerin Bärbel kommt, oder auch die Ich-Erzählerin, noch mehr Authentizität. Die neue, noch nicht der deutschen Sprache mächtigen Schülerin hat mit massiven Vorurteilen zu kämpfen, wobei Bärbel das ausgrenzende Verhalten der Mitschülerinnen und -schüler zwar kritisch bedenkt, aber erst langsam sich davon distanziert und eine freundschaftliche Beziehung aufbaut. Durch Erklärungen Ülküs bahnt sich nicht nur für Bärbel sondern auch für die Leserinnen und Leser weiteres Verständnis an, z.B. als die beiden über die Zukunft reden, wenn Ülkü wieder in der Türkei sein würde.

Ülkü heftete die Augen an eine Seeanemone und redete so leise, daß ich sie kaum verstand. „Ich hätte eigentlich drei Brüder, aber sie sind tot. Mein Vater wollte einen Sohn, einen tapferen Sohn. Er hat nur mich. Früher hat er geträumt – von besseren Zeiten für unser Land. Sein Sohn sollte –“ Ülkü packte mich am Arm, so fest, daß ich erschrak. „Verstehst du jetzt?“ […] „Er will, daß ich es besser haben soll. Ich soll … Geld haben, damit ich nicht den ersten Besten heiraten muß, so ungefähr.“ „Aber Ülkü! Du mußt doch gar nicht heiraten! Du könntest doch studieren, du könntest alles studieren, was du nur willst, mit deinem Kopf. Du könntest wirklich etwas erreichen …“ […] Als ich aufgehört hatte, weil mir die Luft ausgegangen war, sagte Ülkü: „Ich glaube nicht daran. Es geht nicht.“ (Ülkü, das fremde Mädchen. Erzählung und Dokumentation, 1973, 118f, alte Rechtschreibung)

Fast vierzig Jahre später richtet sie in Dr. Chickensoup (2011) ihre Aufmerksamkeit auf zwei noch immer präsente soziale Problemfelder: Die Auswirkungen der Armutsgefährdung alleinerziehender Mütter auf ihre Kinder und die Schwierigkeiten einer Integration für noch nicht Deutsch-Sprechende.  Julia verheimlicht trotz ihrer guten Schulleistungen ihre sozio-ökonomische Situation, um nicht verspottet zu werden, weshalb ihre Mitschülerinnen und -schüler oftmals ihr Verhalten nicht verstehen. In inneren Monologen gibt Welsh Einblick in die innere Zerrissenheit des Mädchens, das sowohl versteht, wie schwierig es für ihre Mutter ist, daher ihre Bedürfnisse zurücknimmt, als auch mit der Unterdrückung ihrer eigenen Empfindungen überfordert ist.

Gut, dass ich nicht eingeladen war, dachte Julia. Neben denen wäre ich mir ja doch vorgekommen wie das Aschenputtel. […] Blödsinn. Mist. Scheiße. Zwischen schäbig und schäbig ist ein Riesenunterschied. Die Oma hat leicht reden, uralt wie sie ist. Bei ihr ist es egal, was sie anzieht. Aber ich schäme mich schon, wenn ich so schäbig daherkomme, und dann schäme ich mich noch einmal, weil ich mich schäme. (Welsh 2011, 23f)

Erst im Anderssein von Leyla, die ohne Deutschkenntnisse in ihre Klasse kommt, findet sie eine Verbündete und kann offen über die schwierige ökonomische Lage sprechen. „Indem Welsh eine klare Parallele zwischen der Situation von Leyla, der Fremden, und Julia zieht, wird Armutsgefährdung eines österreichischen Kindes ebenso als Differenzlinie in einer heterogenen Gesellschaft sichtbar wie jene der oft zitierten Marginalisierung aufgrund eines Migrationshintergrundes.“ (Gehrke 2019, 77)

Nicht nur gesellschaftliche Ausgrenzung beschreibt sie also von Beginn ihrer Kariere an psychologisch nuanciert sondern auch über Gewalt in der Schule (Sonst bist du dran, 1994), das Finden eines Auswegs aus dem Schweigen über die Depression der alleinerziehenden Mutter (Disteltage, 1996), die schwierige Lebenssituation für einen Pubertierenden nach einer Trennung (Max, der Neue, 1999), Mobbing (Gut, dass niemand weiß, 2006) oder auch über die drohende Abschiebung einer Familie ( …und raus bist du, 2008).

Den offensichtlichen Mangel an Zeit der beiden arbeitenden Eltern für das eigene Kind thematisiert Welsh in Zeit ist keine Torte (2017). Statt die Winterferien beim gemeinsamen Schifahren zu verbringen, fährt die Mutter zu einem wichtigen Kongress und der Vater übernimmt einen neuen Auftrag und auch das Kindermädchen sagt krankheitsbedingt ab. Dafür findet die Tochter Elli in der älteren Nachbarin eine interessierte Zuhörerin, begnadete Erzählerin und exzellente Köchin, die gerne mit ihr die Zeit verbringt. Mit diesen Erfahrungen wird dem Mädchen bewusst, dass ihre Eltern nie Zeit für sie haben. Sie solle doch erzählen, was sie erlebt hat:

„Ja. Aber jetzt sag mir, was da gestern los war, ich hab’s leider eilig.“ „Schnell kann man das nicht erzählen“, sagt Elli, „und dir schon gar nicht, weil du sowieso keine Zeit hast.“ „Aua!“, sagt Papa. Elli hat einen Punkt gemacht, und er hat verstanden. (Zeit ist keine Torte, 2017, 28)

Der Vater lernt innerhalb dieser Ferien seine Haltung zu reflektieren und es gelingt ihm immer besser, abends nicht mehr zu arbeiten. Auch der Mutter fällt bei ihrer Rückkehr auf, dass sich etwas verändert hat: „‚Irgendetwas ist anders‘, stellt sie fest. ‚Ich weiß nicht, was es ist, aber … ich glaube, es gefällt mir.‘ […] ‚Jetzt weiß ich’s: Dein Handy hat kein einziges Mal geklingelt, und du hast auch keine Mails angeschaut!‘ […] ‚Ich glaub’s nicht. Das … wäre ja ein Wunder‘“ (Zeit ist keine Torte, 2017, 106). Diese „Wunder“, also mögliche Veränderungen im Miteinander, werden ob der komplexen Charaktere glaubwürdig, weil Welsh kein schnelles „happy end“ propagiert.

In Sarah spinnt Geschichten (2014) zeigt sich die Überzeugung und auch die persönliche Erfahrung der Autorin, dass das Geschichten-Erzählen die Realität verändern kann. Sarah kommt in eine neue Schule, da sie mit ihrem alleinerziehenden, verständnisvollen, manchmal überforderten Vater in die Stadt gezogen ist. Schon bald zwingt sie der starke Junge Gustl für ihn die Geschichten auszudenken, dabei kommt sie seinem Geheimnis auf die Spur, fast nicht lesen zu können. Und es gibt noch anderes zu erfahren:

Es gibt eben zwei Gustln, denkt Sarah. Den einen, den Ungustl in der Schule, der sich aufplustert und gemein ist und gar nichts lernen will, und den anderen, den Gustl, der Geschichten hören will, der sich freut, wenn er etwas verstanden hat. (Welsh 2014, 57)

Mit der Gabe des Geschichten-Erzählens kann Sarah zeigen, was sie kann, erlaubt es Gustl, sein Dilemma anzugehen, und zugleich Freunde gewinnen. Das Geschichten-Erfinden hilft, wie es Renate Welch selbst erlebt hat und für andere auch erlebbar macht, was ihr in ihren Schreibwerkstätten gelingt.

2.3 Auto-biographische Literatur

Einen besonderen Teil ihrer Werke stellen die auto-biographischen Romane dar, die unterschiedliche Lebensläufe/-entwürfe in allen Facetten ausbreiten, wobei WelsÜ das Zuhören kultiviert. „Übers Zuhören lernte ich recherchieren, und das wurde immer wichtiger, nicht nur im direkten Zusammenhang mit dem Schreiben, sondern auch darüber hinaus.“(Welsh 2007, 21) Nach vielen Gesprächen mit einer Nachbarin auf dem Land, wo ihr Vater 1965 ein Bauernhaus gekauft hatte, und darauffolgenden Recherchen zu den 1930erJahren in Österreich, erzählt sie in Johanna (1979 erstmals erschienen) den schwierigen Kampf des ledigen, fremdbestimmten Kindes in der Zwischenkriegszeit in Niederösterreich, das statt Schneiderin zu lernen als Dirn arbeiten musste, um ein menschenwürdiges, vor allem auch selbstbestimmtes Leben. Leitmotivisch klingt die Aussage „Wenn ledige Kinder schon was wollen dürften“ auch im 2021 erschienen Folgeband Die alte Johanna nach. Hier imaginiert Welsh dieser Frau, die ihr Leben lang um ihre Würde kämpfte, das Rekapitulieren ihres Lebens nun als allen anderen im Dorf ebenbürtigen Ehefrau, Mutter und Bäurin.

Über Österreicherinnen und Österreicher im Widerstand gegen den Nationalsozialismus recherchiert Welsh ebenso – also mit Zuhören und in Archiven – und gibt 1988 mit In die Waagschale geworfen ein Zeugnis über unterschiedliche Persönlichkeiten. Zwar nicht biographisch, aber doch dokumentarisches Material verdichtend, widmet sie sich in ihren multiperspektivisch erzählten Roman Besuch aus der Vergangenheit (1999) der Verantwortung über die Verbrechen des 2. Weltkrieges. Anlass der inneren Monologe der 14-Jährigen, ihrer Mutter und Großmutter, die in einer ehemals arisierten Wohnung leben, der Besuch der Tochter der emigrierten jüdischen Familie. So entsteht ein facettenreiches Bild des Umgang von drei Generationen mit der Geschichte – von Verdrängen, Ignoranz bis Interesse.

Auch historische, vergessene Persönlichkeiten geraten in den Fokus der Autorin. Als Musikliebhaberin widmet sie ihre Arbeit aber nicht den bekannten Akteuren, sondern widmet ihre Arbeit den unbekannten. So erschien 1991 ein weiterer biographischer, intensiv in Archiven recherchierter Roman über Constanze Mozart. Eine unbedeutende Frau, für erwachsene Leserinnen und Leser, in denen sie sich der Perspektive der Ehefrau des berühmten Musikers verpflichtet, also jener, die nicht im kollektiven Gedächtnis verankert ist.

Kein Kinderparadies, sondern ungeschöntes, konsequent aus der Kinderperspektive erzähltes Fremd-Sein in der Familie erlebt Dieda, oder das fremde Kind (…). Es ist ein sehr persönliches Buch, in dem sie die Leserinnen und Leser in poetisch-dichter Sprache mit in eine (ihre) Kinderwelt nimmt, einem Kind, das sich als Fremde mit Stiefmutter und Stiefgroßeltern fühlt. Selbst entschlossen, in dieser Gesellschaft namenlos zu bleiben, erlebt Dieda das Ende des 2. Weltkrieges in Bad Aussee und versucht sich selbst zu begreifen, bis sie für die neugeborene Stiefschwester ihren Namen sagt und sich wieder als Teil von etwas wahrnimmt. „Alles Erzählte bleibt der Sicht von Dieda verpflichtet – nichts wird relativiert oder erklärt.“ (Lexe 2007, 43)

Hitler war also tot. Der Alte trauerte um ihn. Sie hatte sich so gefreut auf diesen Tag, und jetzt konnte sie sich nicht auf die Schaukel setzen und wild schaukeln bis in die Wipfel der Fichten.
Die Frau brachte einen Teller Suppe, half Dieda beim Aufsetzen. „Soll ich dich füttern?“
„Ich kann schon.“ […]
Hitler war tot. War dann der Krieg vorbei? Wenn sie nur hinübergehen dürfte zu Frau Fischer. Die würde ihr Antwort geben. (Welsh 2002, S.85f)

Ob dieser Perspektive fordert dieser Roman Empathiefähigkeit der Leserinnen und Leser ein und changiert mit dem besonderen Sich-Erinnern zwischen Kinder- und Kindheitsliteratur.

Eindeutig der Kindheitsliteratur sind die 2019 erschienen Kieselsteine. Geschichten einer Kindheit zuzuordnen, in denen einzelne erinnerte Erlebnisse erzählt und als solche auch kommentiert werden. Sie geben Einblick in die erinnerte Kindheit während des Nationalsozialismus und Krieges mit allen Verunsicherungen bis zum Erwachsenenleben. Eindrucksvoll dokumentieren diese „Geschichten“ die Erinnerungen, welche die Grundlage für ihr fiktionales Werk Dieda bildeten, wie es die Beschreibung des Hauses in Bad Aussee während des Krieges zeigt: „Im Haus war ich zunächst vor allem überrascht, wie winzig die Räume waren. Unvorstellbar, dass sieben Erwachsene und neun Kinder hier gewohnt hatten, das erklärte das Gefühlt drückender Ende, wenn ich an die Zeit dachte.“ (Welsh 2019, 96)

Dass dieses Benennen, Beschreiben und in Sprache Bringen ein essenzieller Aspekt ihres Lebens darstellt, zeigt sich besonders deutlich in ihrer 2023 erschienen Erzählung Ich ohne Worte. Sie beschreibt ihren persönlichen Weg aus der Sprach- und Bewegungslosigkeit nach einem Schlaganfall, wobei ihre Überlegungen auch darüber hinausweisen: „Wer sich akzeptiert weiß, dem löst sich die Zunge, wer sich beweisen muss, dass er oder sie ein Recht hat, da zu sein, dem schnürt es den Hals zu.“ (Welsh 2023, 80)

 

3 Schreibwerkstatt – Über das Schreiben

Heute bin ich bescheidener und skeptischer geworden, aber ich glaube nach wie vor an die Aufgabe und Herausforderung, Wirklichkeit und Möglichkeit mit den Mitteln der Sprache zu gestalten. Ich glaube nach wie vor, daß [!] Sprachwelten die reale Welt mit- und umgestalten können, auch wenn ihre Wirkungen viel weniger direkt sind, als ich früher gedacht hatte, viel verschlungener. (Welsh, 1995, S. 9)

Der Überzeugung folgend, dass Schreiben das Denken und letztlich auch das Leben beeinflusst, entwickelte Renate Welsh eigene Programme für Schreibwerkstätten. Dass Schreiben und Zuhören für sie zusammengehören zeigt sich in ihren Aufträgen an die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die sie auch immer wieder dokumentiert. So werden bewusst alle Aufträge und Texte, die die Schülerinnen und Schüler in der Schreibwerkstatt im Rahmen der Seckauer Kulturwochen im Abteigymnasium erhalten und geschrieben haben, in die Publikation … da war ich mir fremd. Vom Wort zum Satz zum Text (1992) aufgenommen. Beides bilden den autobiographisch motivierten Prozess bis hin zu unterschiedlichen finalen Texten ab, die Heimat und Fremd-Sein thematisieren.

Auch in der VinziRast, einem Treffpunkt für Obdachlose, leitete 2007 Welsh eine Schreibwerkstätte, wobei Texte der Gäste des Hauses und Überlegungen der Autorin in der Publikation Mit einem Fuß auf zwei Beinen stehen (2013) nachzulesen sind.
Grundlegend für ihre Autorentätigkeit, wie auch für ihre Arbeit in den Schreibwerkstätten kann Folgendes gelten:

Lesend und schreibend werden eigene Möglichkeiten und Grenzen ebenso ausgelotet wie die des ganz und gar Anderen, was wiederum einen klareren Blick auf das Eigene erlauben kann. Es geht mir darum, einen Raum zu schaffen, in dem es möglich ist, aufeinander zuzugehen, und der Bleistift in der Hand hat dabei die Funktion eines Wanderstabs, auf den man sich auch stützen kann, wenn man Gefahr läuft, allzu gefährliches Gelände zu betreten. Über manches, worüber man nicht sprechen kann, kann man schreiben, jedenfalls in einem geschützten Raum und wenn man darauf vertrauen kann, empathische Zuhörerinnen und Zuhörer zu finden. (Welsh 2013, 154)

 

4 Rezeption

Neben Mira Lobe, Käthe Recheis, Friedl Hofbauer, Christine Nöstlinger gehört Renate Welsh zu den bekanntesten und die österreichische Kinder- und Jugendliteratur Ende des 20. Jahrhunderts prägenden Autorinnen. Abgesehen davon, dass viele ihrer Werke Preise erhalten haben, wird auch immer wieder das Gesamtwerk gewürdigt: 1978 den Friedrich-Bödecker- Preis, 1992 den Österreichischen Würdigungspreis für Jugendliteratur, 2003 den Großen Preis der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur e.V. und 2016 den Preis der Stadt Wien für Literatur. Auch wenn sie sofort mit den Geschichten um Das Vamperl in Verbindung gebracht wird, sind alle ihre Werke, besonders die realistischen, deutlicher literarische Zeugnisse ihrer sozial engagierten, weltoffenen Haltung.

Damit haben sich ihre Bücher auch als Schullektüre profiliert: Neben den Geschichten um Das Vamperl, der in der Grundschule gerne eingesetzt wird und zu dem es immer wieder aktuelles Material bereitgestellt wird, finden sich zu anderen der realistischen Erzählungen Welshs kommentiertes didaktisches Material. In der Sekundarstufe findet aber nicht nur der zeitgeschichtliche Roman Johanna immer wieder Leserinnen und Leser. (didacticum 1/2019).

Nicht nur Literaturwissenschafterinnen und Literaturdidaktiker sondern auch Psychoanalytikerinnen und -analytiker widmen sich den Werk Welshs, wie das Sonderheft 18/2017 von libri liberorum belegt. Dabei fasziniert allen Forschenden dieses genau recherchierte, den (unterprivilegierten) Menschen zugewandte und dem Fremden/Anderen aufgeschlossene Schreiben, das auch die Leserinnen und Leser schätzen.

 

Literaturverzeichnis

Primärliteratur (Auswahl)

  • Ülkü, das fremde Mädchen. Erzählung und Dokumentation. Wien, München: Jugend & Volk 1973.
  • Das große Buch vom Vamperl. Mit Bildern v. Herbert Schulmeyer. München: dtv junior 22011 [EA Bd 1 1979, Bd 2 1992, Bd 3 1998; Sammelband 2010].
  • Johanna. Wien: Czernin 2021 [EA 1979].
  • Constanze Mozart. Eine unbedeutende Frau. München: dtv 2004 [EA 1990].
  • Sonst bist du dran! Mit Illustr. v. Dorothea Tust. Würzburg: Arena 152003 [EA 1994].
  • Max, der Neue. Würzburg: Arena 42010 [EA 1999].
  • Dieda oder Das fremde Kind. Innsbruck, Wien: Obelisk 2002.
  • Ohne Vamperl geht es nicht. Mit Bildern v. Herbert Schulmeyer. München: dtv junior 2010.
  • Dr. Chickensoup. Mit Bildern v. Friederike Grünstich. St. Pölten, Salzburg: NÖ Pressehaus 2011.
  • Ganz schön bunt. Mit Bildern v. Monika Maslowska. Innsbruck: Obelisk 2013.
  • Sarah spinnt Geschichten. Illustr. v. Suse Schweizer. Innsbruck, Wien: Obelisk 2014.
  • Zeit ist keine Torte. Illustr. v. Julie Völk. Innsbruck, Wien: Obelisk 2017.
  • Kieselsteine. Geschichten einer Kindheit. Wien: Czernin 2019.
  • Die alte Johanna. Wien: Czernin 2021.
  • Ich ohne Worte. Erzählung. Wien: Czernin 2023.

Vorträge

  • Geschichten hinter den Geschichten. Innsbrucker Poetik-Vorlesung. Innsbruck 1995.
  • Dahinter steh’ ich. Rede in der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main am 30. Juni 2000. Frankfurt am Main: Freundeskreis des Instituts für Jugendbuchforschung.
  • Seibert, Ernst (Hrsg.): Renate Welsh. Das Leben buchstabieren. libri liberorum, Sonderheft 2007 [letzter Aufruf: 27.08.2021].

Mit-Herausgeberin

  • … da war ich mir fremd. Vom Wort zum Satz zum Text. Graz, Budapest: Schnider 1992.
  • Mit einem Fuß auf zwei Beinen stehen. Texte aus der Schreibwerkstatt im VinziRast-CortiHaus. Wien: Wiener Dom-Verlag 2013.

Forschungsliteratur

  • Fuchs, Sabine (Hrsg.): Renate Welsh und ihre Texte. Literatur für den Unterricht. didacticum 1 (2019), H. 1 [letzter Aufruf: 27.08.2021].
  • Lexe, Heidi (Hrsg.): Renate Welsh. Das Leben buchstabieren. Festvorleseung. Mit einem Interview und ergänzenden Beiträgen zum Werk von Renate Welsh (Fernkursskriptum). Wien: Stube 2007.
  • Seibert, Ernst/Schlüter, Sabine (Hrsg.): „… worüber man nicht sprechen kann, kann man schreiben …“. Renate Welsch 80. libri liberorum, Sonderheft 2017 [letzter Aufruf: 27.08.2021].
  • Urbanek, Andrea: Renate Welsh. In: Kurt Franz/Günter Lange/Franz-Josef Payrhuber (Hrsg.): Kinder- und Jugendliteratur. Ein Lexikon. Loseblatt-Ausgabe. Meitingen: Corian 2000, S. 1-30.
  • Urbanek, Andrea: Renate Welshs Kinder- und Jugendbücher in der Grundschule und Sekundarstufe I. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2007.
  • Weinkauff, Gina/Dolle-Weinkauff, Bernd: Erzählungen und Dokumentation. Fremde Länder und fremde Kinder im Frühwerk von Renate Welsh. In: Gunda Mairbäurl et al. (Hrsg.): Kindheit, Kindheitsliteratur, Kinderliteratur. Studien zur Geschichte der österreichischen Literatur. Festschrift für Ernst Seibert. Wien: Praesens 2010, S. 193-202.

Internetquellen

  • Bach, Susanne: Renate Welsh (* 22.12.1937 in Wien) ist eine österreichische Schriftstellerin. In: kinderundjugendmedien.de, 01.01.2013 [letzter Aufruf: 27.08.2021].

Handreichungen/Unterrichtsmaterialien

  • Dünich, Werner: Renate Welsh: Sonst bist du dran. In: arena-verlag.de, 25.08.2021 [letzter Aufruf: 27.08.2021].
  • Kaufmann, Theo/Simon-Kaufmann, Gabi: Renate Welsh: Max, der Neue. In: silo.tips, 25.08.2021 [letzter Aufruf: 27.08.2021].
  • Saam, Maren: Materialien und Kopiervorlagen zu Renate Welsh: Das Vamperl. Garching: Hase und Igel 2011.
  • Villarmé, Stefanie: Renate Welsh: Das Vamperl. Didaktische Bearbeitung für den Unterricht Deutsch als Fremdsprache, Deutsch als Zweitsprache. Primarstufe, Sekundarstufe I. Arbeitsblätter und Hinweise für den Unterricht. Wien: Eviva 2001.