Augsburger Puppenkiste

Die Augsburger Puppenkiste ist ein Marionettentheater in Augsburg. Das Familienunternehmen, gegründet von Rose und Walter Oehmichen und inzwischen in der dritten Generation, spielt seit der Eröffnung 1948 in der Augsburger Spitalgasse.

Fred Steinbach und Barbara van den Speulhof
veröffentlicht am 03.04.2022

1 Vorgeschichte

Vielleicht ist es diese besondere Zirkusluft, die Walter Oehmichen schon in der Wiege um die Nase weht und die ihn später dazu bewegt, eine Laufbahn als Schauspieler anzustreben. Seine Eltern wollen jedoch, dass er zunächst einen „ordentlichen“ Beruf erlernt. Er fügt sich und macht nach der Schule eine Fotografenlehre, die er im Alter von 15 Jahren mit dem Gesellenbrief abschließt. Dann bewirbt er sich an der schon damals renommierten Schauspielschule Dumont-Lindemann in Düsseldorf. Mit Erfolg. Er wird nicht nur zum Vorsprechen eingeladen, sondern auch als Schüler aufgenommen, und beginnt 1918 mit seiner Schauspielausbildung. Der Grundstein für seine zweite Karriere ist gelegt.
Nach Abschluss dieser Ausbildung im Jahr 1920 nimmt Walter Oehmichen verschiedene Engagements an deutschen Spielstätten an. Während dieser Zeit lernt er Rose Mönning kennen, eine Schauspielkollegin, die, im selben Jahr geboren wie er selbst, auf der von Max Reinhardt gegründeten Schauspielschule Berlin studiert hat. Bereits 1924, ein Jahr nachdem sie sich auf einer Weihnachtsfeier in Düsseldorf zum ersten Mal begegnet sind, verloben sich die beiden und heiraten 1925. Vier Jahre später kommt Ursel (genannt Ulla), die erste Tochter von Walter und Rose Oehmichen, zur Welt.

Als Erich Pabst, Intendant in Osnabrück, sich entschließt, nach Augsburg zu gehen, folgt ihm auf dessen Wunsch sein Freund Walter Oehmichen ans dortige Theater. Er beginnt als Spielleiter und steigt bald zum Oberspielleiter auf. Zu seinen bedeutendsten Inszenierungen zählt die Oper Elektra, die 1936 auf der Augsburger Freilichtbühne Premiere feiert und bei der Richard Strauss selbst dirigiert. Nach wie vor tritt Walter Oehmichen jedoch auch als Schauspieler auf. Unter anderem als Nathan der Weise, in Der Widerspenstigen Zähmung, Peer Gynt oder in Komödien wie Charleys Tante.

Es gibt zwei Gründe, die Rose Oehmichen veranlassen, mit dem Umzug nach Augsburg ihren Beruf zunächst aufzugeben: Zum einen beschäftigt das Theater in Augsburg zur damaligen Zeit keine Ehepaare und zum anderen kommt 1931 die zweite Tochter Hannelore (auch Hatü genannt) zur Welt. Walter Oehmichen setzt seine Regiearbeit am Theater fort. Er inszeniert unzählige Stücke und beginnt auch damit, jährlich ein Weihnachtsmärchen für Kinder auf die Bühne zu bringen. Ein erster Schritt in Richtung Figurentheater.

1936 besucht Walter Oehmichen eine Vorstellung des in Düsseldorf gastierenden Deutschen Künstler-Marionetten-Theaters von Fritz Gerhards. Dieser Abend soll für ihn zu einem Schlüsselerlebnis werden. Gerhards, ein ehemaliger Kommilitone Oehmichens, hat sich bereits seit 1925 ganz dem von zeitlosen Mythen inspirierten Marionettenspiel verschrieben. Ab Herbst 1940 arbeitet Walter Oehmichen zwei Jahre lang an einem kleinen Marionettentheater, dem sogenannten Puppenschrein: Den im Stil der Gründerzeit verzierten Bühnenrahmen mit verschließbarem Guckkasten passt er in einen Türrahmen ein. Im Raum hinter der Bühne baut er ein ausgetüfteltes Stellwerk auf. Darunter montiert er auf drei fahrbaren Bühnenwagen die Kulissen, ein Tisch dient als Spielbrücke. Und dies alles findet in der Zweizimmerwohnung der vierköpfigen Familie statt.

Walter Oehmichen beginnt hier nicht nur seine Vision zu verwirklichen, er kann auch seine vielfältigen Talente einsetzen, die weit über die reine Schauspielerei und das Inszenieren hinausgehen: Er schnitzt die Puppen, kümmert sich um den Bühnenaufbau und die Dekorationen und vereint so in Personalunion all die künstlerischen wie handwerklichen Qualitäten, die es braucht, um ein Stück zur Bühnenreife gelangen zu lassen. Das ist auch der Moment, in dem Rose Oehmichen wieder zu ihren beruflichen Wurzeln zurückkehren kann. Als Schauspielerin mit fundierter Sprechausbildung leiht sie den Puppen, die sie führt, ihre Stimme und haucht ihnen so beim Spiel Leben ein. Darüber hinaus kümmert sie sich auch um die Kostüme ihrer kleinen hölzernen Protagonisten.

Am 15. November 1942, an Ullas Geburtstag, wird der Puppenschrein vom Ensemble, den vier Oehmichens, aus der Taufe gehoben, und schon sechs Monate später treten die Marionetten das erste Mal öffentlich auf: Am 7. Dezember 1943 besucht die Familie das Lazarett Maria Stern und spielt vor den im Krieg verwundeten Soldaten. Viele Vorstellungen des kleinen Türrahmentheaters sollen jedoch leider nicht folgen. Die 55. wird ihm zum Verhängnis: In der Nacht vom 25. auf den 26. Februar 1944 wird Augsburg Ziel eines Bombenangriffs durch die Alliierten. Teile der Stadt werden zerstört und gehen in Flammen auf. Auch das Stadttheater wird getroffen, und mit ihm verbrennt der Puppenschrein, der nach einer Vorstellung für die Kinder der Bühnenangehörigen dort gelagert wird. Die meisten Puppen hat Oehmichen glücklicherweise mit nach Hause genommen. Weitere Aufführungen werden nicht nur durch die Zerstörung des Theatergebäudes verhindert. Das Deutsche Reich erklärt der Welt den „totalen Krieg“, die Theater werden geschlossen, die Kulturschaffenden sind nicht länger vom Wehrdienst befreit und Walter Oehmichen wird im Herbst des Jahres 1944 erneut eingezogen. Rose bleibt allein in Augsburg zurück.

Hannelore, die sich von der Hingabe ihres Vaters zum Puppenbau hat anstecken lassen, schnitzt während des Aufenthalts auf dem Land ihre ersten Marionetten, obwohl ihr der Umgang mit den scharfen Messern vom Vater strengstens verboten wurde. Gemeinsam mit ihrer Freundin Menja Hessing träumt sie von einer eigenen kleinen Puppenbühne. Hannelores Vater ist unterdessen noch immer an der Front. Glück im Unglück, dass er im weiteren Verlauf mit einer eitrigen Mandelentzündung ins Lazarett nach Darmstadt eingeliefert wird und so seinem wahrscheinlichen Tod auf dem Schlachtfeld entgeht, denn nur fünf Männer aus seiner Einheit überleben.

Im Lazarett lernt Walter Oehmichen einen Holzbildhauer kennen, unter dessen Anleitung er zwei Marionetten schnitzt: einen Storch und den „Gevatter Tod“. Auf das Lazarett folgt französische Kriegsgefangenschaft. Walter Oehmichen fällt einer seiner Mitgefangenen besonders auf: ein Mann mit einem von Lachfältchen geprägten Gesicht, eine Frohnatur, ein Optimist, ein Mensch mit hintergründigem Witz. Durch ihn inspiriert, formt sich das Bild einer Figur: die des Kasperls. Er modelliert das Gesicht aus Tonerde, um es später in Holz nachzubilden. Das Ergebnis ist ein eher untypisches Kasperlgesicht, das ohne eine lange oder hakenförmige Nase und ohne freches Grinsen auskommt und das bis heute fest mit der Augsburger Puppenkiste verbunden ist.

Am Nachmittag des 1. September 1945, einem Samstag, wird die Familie Oehmichen endlich wieder vereint. Nach dem verlorenen Krieg liegt Augsburg in Trümmern. Die Zeiten sind denkbar schlecht. An das Stadttheater kann Oehmichen infolge seiner NSDAP-Mitgliedschaft vorerst nicht zurück. Nur für mindere Arbeit lassen ihn die Besatzungsmächte zu, und dagegen ankämpfen mag der Familienvater nicht. Er gibt lieber Schauspielunterricht und seine Frau Rose näht Kleider. So wird, mehr schlecht als recht, die Familie ernährt. Dennoch verlieren die Oehmichens die neue Puppenbühne nicht aus den Augen, und Walter findet einen Unterstützer für seine Idee: In der Werkshalle des Karosseriebaumeisters Markus Göppel kann er die neue Bühne bauen, und auf dem Hof der Werkstatt findet er auf der Suche nach verwertbarem Material rostige, krumme Nägel, die er kurzerhand geradehämmert und zum Bühnen- und Kulissenbau verwendet. Und auch in den Trümmerhaufen der in Teilen zerstörten Stadt entdeckt er Material, das er gut gebrauchen kann: Holz, Eisen und andere Dinge wie Pressspanplatten, gegen die er allerdings sein Auto eintauschen muss. Die Leuchter, die er aus dem alten, zerstörten Rathaus holt, sorgen noch heute im Zuschauerraum für Licht.

In dieser Zeit der Not nimmt das Konzept einer Bühne, die in eine Kiste gepackt und auf Gastspielreisen zu zahlungsfähigem Publikum mitgenommen werden kann, endgültig Form an. Der Name des Theaters liegt also auf der Hand. Nun braucht Walter Oehmichen nur noch die offizielle Erlaubnis: Dem Antrag wird stattgegeben – Rose Oehmichen darf als Theaterleiterin offiziell den Betrieb aufnehmen –, und so ist das Glück erneut auf der Seite der Puppenkisten-Familie. Auf seinen Streifzügen durch Augsburg findet Walter Oehmichen im Heilig-Geist-Spital einen noch weitgehend intakten Raum, der vor dem Krieg vom Statistischen Amt genutzt wurde. Unterstützt vom Oberbürgermeister der Stadt und dem neuen Intendanten des Theaters Guido Nora, wird der Saal ausgebaut und umfunktioniert. Alles, was halbwegs brauchbar erscheint, wird genutzt, um eine Spielstätte zu errichten, in der Walter Oehmichen endlich seinen Traum verwirklichen kann: die Menschen zu entrücken.

2 Das Theater

Die Familie muss allerdings immer weiter improvisieren: Der Bühnenvorraum wird mit alten Reichsflaggen abgehängt, aus denen zuvor die Hakenkreuze herausgeschnitten wurden. An der gegenüberliegenden Wand wird kurzerhand die Garderobe errichtet, die Zuschauer sitzen auf zusammengesammelten Bierbänken und Biergartenstühlen. Bis zum heutigen Tag ist das Theater im ehemaligen Heilig-Geist-Spital untergebracht. Davon wagte allerdings damals noch niemand zu träumen, an jenem denkwürdigen Tag, am 26. Februar 1948, als das erste Bühnenstück der Puppenkiste nun ganz „offiziell“ zur Aufführung kam, genau vier Jahre, nachdem der Puppenschrein beim Bombenangriff zerstört wurde. Es ist ein Kater, der aus der Puppenkiste springt und die Bühne einnimmt: Der gestiefelte Kater, und damit ein Märchen der Brüder Grimm, das von der Kraft des Willens und vom Optimismus erzählt. Und noch einer ist bei der Premiere dabei. Einer, der der Augsburger Puppenkiste seither die Treue hält: der Kasperl. Er eröffnet die allererste Vorstellung und beschimpft dabei seinen Schöpfer Walter Oehmichen, weil er ihm keine Rolle im Stück zugedacht hat. Die Musik wird damals noch live auf einem Klavier gespielt. Tochter Hannelore führt den Kater, ihre Mutter Rose spricht seine Texte. Das Theater ist bis auf den letzten Platz ausverkauft.

Doch es ist noch lange nicht an der Zeit, sich zurückzulehnen und sich auf den Erfolgen auszuruhen. Im Jahr der Eröffnung tritt die Währungsreform in Kraft. Mit Wirkung zum 21. Juni 1948 wird die Deutsche Mark alleiniges Zahlungsmittel und löst die Reichsmark ab. Im Herbst jenes Jahres gerät die Augsburger Puppenkiste, wie viele andere Unternehmen auch, in finanzielle Schräglage. Walter Oehmichen sieht sich gezwungen, die Bezahlung seiner Mitarbeiter auf eine prozentuale Beteiligung an den Einnahmen umzustellen. Doch bleiben unter all diesen Schwierigkeiten viele Mitarbeiter dem Haus treu.

Trotz der Währungsreform, die diese Situation noch erschwert, weicht Walter Oehmichen nicht von seinem gewagten Vorhaben ab, eine erste Abendinszenierung auf die Bühne seines Marionettentheaters zu bringen. Das war ein gewagtes Unternehmen, denn anders als bei den bislang gespielten Märchen riskiert er mit einem Stück ausschließlich für Erwachsene, die Eintrittsgelder seines bisher wichtigsten Kundenstamms – der Kinder – zu verlieren und keine lohnende Platzausnutzung im Zuschauerraum zu erreichen. Oehmichens Wahl fällt daher nicht nur aufgrund des künstlerischen Anreizes auf das alte Faust-Puppenspiel. Geschickt verknüpft das Stück Ernst und Komik und verschließt sich somit auch jungen Zuschauern nicht. Zugleich erfüllt es Oehmichens besondere Ansprüche an einen Text für das Figurentheater. Er wählt gern solche Stücke aus, die sich mit lebenden Schauspielern nur schwer oder weniger wirkungsvoll umsetzen lassen. Das Faust-Puppenspiel mit seinen zahlreichen fliegenden Teufeln, Geistererscheinungen und abstrakten Figuren wie den „Sieben Todsünden“ ist hierfür ein Paradebeispiel. Den nur fragmentarisch erhaltenen Text der Augsburger Fassung (vermutlich aus dem 18. Jahrhundert) hat Oehmichen unter Verwendung von Aufzeichnungen anderer Dialektfassungen des Stückes rekonstruiert und erweitert. „Et proverbum commune est: quid capita tot sententias: viele Köpfe, viele Sinne …“, kann Faust daher im Weiteren sinnieren und sieht sich am Premierenabend glücklicherweise auch vielen Köpfen im Zuschauerraum gegenüber, denen sein Spiel ganz nach ihrem Geschmack ist. Walter Oehmichens Rechnung geht also auf.

Im Verlauf der nächsten zehn Monate folgen sieben neue Inszenierungen für Kinder. Neben der Abendinszenierung bietet der Spielplan eine bunte Mischung aus drei neuen Märchenbearbeitungen, zwei christlichen Legendenspielen, einem Kasperltheater und einem Stück, das Oehmichen selbst geschrieben hat. Unterstützt wird er dabei von einem jungen Schauspieler, der dem Ensemble seit dem 15. Januar 1948 als Puppenspieler und Sprecher angehört. Im Programmzettel findet diese Mitarbeit Manfred Jennings zwar keine Erwähnung, doch wird er erstmals als Autor für einige Szenen und Dialoge des Ostermärchens Familie Löffelohr tätig. Als die zweite Spielzeit am 28. Mai 1949 endet, haben die Oehmichens und ihr Ensemble 255 Vorstellungen gespielt. Theaterferien gibt es dennoch nicht. Mit Sack und Pack fährt die Augsburger Puppenkiste nach Frankfurt am Main, um im Juli während der Ausstellung „Heimat im Haus“ im Römer im benachbarten Ratskeller ihr erstes Gastspiel zu geben.

Die Eintrittspreise der verschiedenen Sitzränge für die Aufführungen der Puppenkiste betragen nachmittags 50 Pfennig, 1 DM und 1,50 DM sowie abends 1 DM, 2 DM und 2,50 DM. Besucher der Ausstellung erhalten jedoch 50% Ermäßigung auf ihre Theaterkarten. Große Sprünge erlauben die Einnahmen also nicht. Immerhin kann Walter Oehmichen die Zahlung einer Tagespauschale für die Unterbringung an seine Ensemblemitglieder erübrigen.

Doch im Theater in der Spitalgasse wurden unermüdlich neue Inszenierungen auf die Bühne gebracht. Alleine im Jahr 1950 waren es neun Stücke für Kinder, die ihre Premiere feierten. Es waren so verschiedene Stücke wie Die kleine Seejungfrau, Der Wolf und das Rotkäppchen, Genoveva, Die drei Wünsche, Die Bremer Stadtmusikanten, Die chinesische Nachtigall, Tischlein deck’ dich, Sankt Nikolaus in Not und Aschenbrödel. Bei den Stücken für Erwachsene ging man früh neue Wege. Noch im gleichen Jahr nach dem Erscheinen der deutschen Fassung von Saint Exupéry’s Der kleine Prinz brachte Walter Oehmichen seine Inszenierung, mit ihm in der Rolle des Fliegers, auf die kleine Bühne des Augsburger Marionettentheaters.

Eine recht eigenartige Geschichte spielte sich um die Inszenierung von Brecht/Weill’s Dreigroschenoper ab. Nach dem Hebbel-Theater in Berlin und den Münchener Kammerspielen wollte Oehmichen dieses weltweit populäre Stück als weiteres Theater in Deutschland nach den Zweiten Weltkrieg auf die Bühne bringen. Zudem war Bertolt Brecht Augsburger. Die Vorbereitungen für das Stück begannen im Dezember 1959 und die erste Aufführung war für den 30. April 1960 um 20:00 Uhr vorgesehen. Die Veränderungen, die die Musikdarbietungen betrafen, hatten aber zur Folge, dass die Lizenzverhandlungen mit Lotte Lenja, der Witwe des 1950 verstorbenen Komponisten Kurt Weill, sehr lange dauerten und der Termin nicht gehalten werden konnte. Lenja weigerte sich beharrlich, der Augsburger Puppenkiste die Verwendung der Musik zur Dreigroschenoper zu genehmigen. Als Oehmichen klar wurde, dass Lenja ihre Zustimmung nicht nur wegen seiner Umstrukturierung der Songeinlagen verwehrte, sondern auch weil sie verhindern wollte, dass das Stück womöglich von einem Puppenspieler mit seiner vermeintlichen Dilettantenbühne verunstaltet würde, beauftragte er kurzerhand Ernst Ammann, die Gestaltung und den Bau der Kulissen beschleunigt zu betreiben. Hannelore Marschall-Oehmichen und Rose Oehmichen sorgten zeitgleich dafür, dass der Bau der Puppen und deren Kostümierung schnellstmöglich abgeschlossen würde. Im Mai 1960 kamen schließlich wiederholt die Fotografen Hans G. Meile und Christine Kurz ins Theater und fertigten eine Reihe eindrucksvoller Aufnahmen an, die umgehend in Form von Hochglanzabzügen an die Komponistenwitwe geschickt wurden. Diese bedankte sich am 19. des Monats mit einem Brief für die Fotos, zeigte sich begeistert und wies, nun aller Sorgen um die Qualität der Inszenierung entledigt, den Verlag Universal Edition endlich an, die Genehmigung vertraglich zu regeln und zu erteilen. Doch damit war noch nicht die letzte Hürde genommen. Als Walter Oehmichen seine Inszenierung der Dreigroschenoper umzusetzen begann, war Brecht auf westdeutschen Bühnen ein vergleichsweise wenig gespielter Autor. Brecht war in vielen Städten, so auch in Augsburg, infolge seiner bewussten Entscheidung, nach seiner Rückkehr aus dem Exil auf dem Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik zu leben und zu arbeiten, als Kommunist oder Bolschewik verschrien und daher auch posthum noch bei vielen Zeitgenossen in der Bundesrepublik Deutschland nicht gern gesehen.

Als nun die Inszenierung in der Augsburger Puppenkiste für Ende April angekündigt worden war, hatte dies großen Unmut in Augsburg erregt. Noch während Oehmichen mit Lotte Lenja verhandelt hatte, war man bereits aus offiziellen Kreisen der Stadt an ihn herangetreten und legte ihm dringend nahe, die Inszenierung fallen zu lassen. Zwar versuchte Oehmichen die Wogen zu glätten und den Stadtrat doch für sein Vorhaben zu gewinnen, doch der Versuch missglückte. Walter Oehmichen hielt dennoch an seinem Plan fest und setzte die Premiere nach der Einigung mit Lenja für den 24. September 1960 neu an. Der Stadtrat entschied, diese Ankündigung mit einer Streichung städtischer Zuschüsse zu beantworten, was Oehmichen wiederum zu einer letzten Textänderung in seiner Aufführung bewegte. Bei seinem Live-Vortrag der „Ballade von den Prominenten“, auch „Salomon-Song“ genannt, wurden die Salomon-Strophe, die Cleopatra-Strophe und statt der Caesar-Strophe die 1938 von Brecht neu verfasste Brecht-Strophe gesungen:

Ihr kennt den wissensdurstigen Brecht
Ihr sangt ihn allesamt.
Dann hat er euch zu oft gefragt
Woher der Reichen Reichtum stammt.
Da habt ihr ihn jäh aus dem Land gejagt.
Wie wissensdurstig war doch meiner Mutter Sohn?
Und sieh, da war es noch nicht Nacht,
Da sah die Welt die Folgen schon:
Sein Wissensdurst hatte ihn so weit gebracht –
Beneidenswert, wer frei davon!

Außerdem verbannte Walter Oehmichen für die Vorstellungen der Dreigroschenoper in der Spielzeit 1960/1961 das Stadtwappen, die Zirbelnuss, aus dem Bühnenrahmen der Augsburger Puppenkiste und ersetzte es durch eine lachende und eine weinende Theatermaske.

Bis heute werden immer wieder aufwändige Theaterinszenierungen für Erwachsene auf die Bühne gebracht. Letztes Beispiel ist der Ring des Nibelungen aus dem Jahre 2018. Diese vielbeachtete Bearbeitung und Inszenierung der Wagnerschen Trilogie von Florian Moch war schon ein Wagnis. Im Original rund 16 Stunden lang, dauerte die Bearbeitung der Augsburger Puppenkiste „nur“ rund 2 Stunden und konnte selbst eingefleischte Wagnerianer überzeugen.

Doch nicht nur Inszenierungen für Kinder und Erwachsene gehörten zum Spielplan der Augsburger Puppenkiste. Schon im Jahr 1950, genau am 31. Dezember 1950, hatte das erste Kabarett-Programm Premiere. Unter dem Titel „Ka-Ba-Reh – Sachen, Satire und tiefere Bedeutung“ wurde eine Tradition ins Leben gerufen die bis heute anhält. Immer am Silvestertag wurde ein neues Kabarett aufgeführt. Bis zum Jahre 2020 waren es genau 70 Kabarett-Programme, die auf die Bühne gebracht wurden. Bis zum 30. Juni 2020 wurden, seit 1948, in der Spitalgasse 24.080 Vorstellungen gegeben, die von  5.216.023 Zuschauern besucht wurden.

3 Fernsehen

Am 25. Dezember 1952 nahm das deutsche Fernsehen seinen Betrieb auf, und schon am 21. Januar 1953, also rund vier Wochen später, wurde Peter und der Wolf mit den Marionetten der Augsburger Puppenkiste und der Musik von Segeij Prokofieff beim NWDR, beim Nordwestdeutschen Rundfunk, unter der Regie von Hanns Farenburg und Ruprecht Essberger ausgestrahlt. 36 Minuten dauerte diese Übertragung. Zur damaligen Zeit war die MAZ, die Magnet-Aufzeichnung, von bewegten Fernsehbildern noch nicht erfunden, also wurde das Stück live gespielt und live ausgestrahlt.

Jetzt begann die langjährige, erfolgreiche Zusammenarbeit mit dem Hessischen Rundfunk. Bis in das Jahr 1959 wurden zahlreiche Inszenierungen live ausgestrahlt. Diese sind leider alle nicht mehr erhalten. 1959 wurde dann eine erste Serie produziert: Die Muminfamilie – eine drollige Gesellschaft. Die Serie wurde live von der Rundfunk-Ausstellung (14. bis 23. August 1959) in Frankfurt gesendet und dabei von einem Fernsehmonitor auf Film aufgezeichnet (FAZ). Eine Fortsetzung folgte im Jahr 1960 mit Die Muminfamilie – Sturm im Mumintal. Auch diese Produktion wurde noch live ausgestrahlt und lediglich mit einer Filmkamera vom Monitor abgefilmt. Deshalb sind beide noch heute erhalten.

Die richtige Erfolgsgeschichte begann dann aber im Jahr 1961, mit Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer. Gefilmt mit 16mm-Kameras (noch in schwarz/weiß) entstand damit die erste Fernsehserie des Deutschen Fernsehens. Thematisch war man mit der Verfilmung von Michael Endes Roman wieder sehr aktuell. Denn ein Tag nach Beendigung der Dreharbeiten bekam Michael Ende dafür den Deutschen Jugendbuchpreis. Es folgten so erfolgreiche Serien wie Kater Mikesch, die Fortsetzung von Jim Knopf, Der Löwe ist los mit seinen Fortsetzungen, Das Urmel, ebenfalls in mehreren Staffeln, Kleiner König Kalle Wirsch, Das Sams und viele, viele mehr. Außerdem drehte man unzählige Sandmännchen-Folgen, entwickelte die Reihe „Museumsratten“ oder auch „Natur und Technik“ und „Denk und Dachte“. Einen großen Anteil an den Erfolgen hatte Manfred Jenning. Der schon zum Beginn der Augsburger Puppenkiste zum Ensemble gehörige Puppenspieler schrieb die Drehbücher und führte dann auch selbst Regie.

Die Zusammenarbeit mit dem Hessischen Rundfunk endete im Jahre 1994. Sie wurde dann noch einmal in den Jahren 1999 und 2000 wieder aufgenommen für die Serie Lilalu im Schepperland. Diese Produktion war auch für den renommierten Adolf-Grimme-Preis nominiert. Insgesamt wurden über die Jahrzehnte über 1.200 Fernsehproduktionen hergestellt.

4 Kino

1995 wagte man den Ausflug auf die große Leinwand. Die Story von Monty Spinneratz lockte fast eine Million Besucher in die Lichtspielhäuser und erhielt den Bayerischen Filmpreis. In den Jahren 2016 bis 2018 kamen die Produktionen Die Weihnachtsgeschichte, Als der Weihnachtsmann vom Himmel fiel (nach dem Roman von Cornelia Funke) und Geister der Weihnacht (nach Charles Dickens) ebenfalls auf die große Leinwand. Auch diese Produktionen waren sehr erfolgreich.

5 Museum

Der größte Wunsch von Hannelore Marschall-Oehmichen, Tochter des Gründers Walter Oehmichen und Schöpferin von schätzungsweise rund 6.000 Marionetten der Augsburger Puppenkiste, war es, einen Platz für die von ihr geschaffenen hölzernen Wesen zu finden. Und ihr Wunsch sollte noch zu Lebzeiten in Erfüllung gehen. Als in den Jahren 2000 und 2001 das Gebäude in der Spitalgasse aufwändig saniert und umgebaut wurde, entstand auch ein Platz für ein Museum. Das „Die Kiste“ genannte Museum zeigt heute in einer Dauerausstellung die berühmtesten Figuren des Theaters, zudem gibt es eine, halbjährlich wechselnde, Ausstellung rund um das Thema Puppenspiel mit vielen, oft auch ausländischen Exponaten. Mit insgesamt über 1 Million Besuchern ist es das erfolgreichste Museum seiner Art.

6 Auszeichnungen und Preise

  • 1981: Bayerischer Poetentaler
  • 1995: Gold und Platin CD für Dolls United Eine Insel mit 2 Bergen
  • 1997: Bundesverdienstkreuz am Bande für Hannelore Marschall-Oehmichen
  • 1997: Bayerischer Filmpreis für Monty Spinneratz
  • 1998: Platin für Videos Jim Knopf
  • 2000: Diverse Goldene DVD’s
  • 2000: Goldener Telix
  • 2000: Bayerischer Verdienstorden an Hannelore Marschall-Oehmichen für ihr Lebenswerk
  • 2001: Nominierung Adolf-Grimme-Preis für Lilalu im Schepperland, Beste Reihen und Serien
  • 2004: Goldene Kamera
  • 2013: Großer Preis der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur
  • 2014: Schwäbischer Lindwurm
  • 2014: Politikaward für Kampagnen öffentlicher Institutionen zusammen mit der Knappschaft Bahn-See

Literaturverzeichnis

  • Das große Buch der Augsburger Puppenkiste. Köln: Boje 2013.
  • Programmhefte der Augsburger Puppenkiste
  • Webseite „Stars an Fäden“ von Matthias Böttger