James Krüss

geboren am 31. Mai 1926 als James Jacob Hinrich Krüss, Insel Helgoland
gestorben am 2. August 1997 auf Gran Canaria
Kinderbuchautor, Kinderlyriker, Übersetzer

Univ.-Prof’ in (i. R.) Dr. habil. Gudrun Schulz
veröffentlicht am 26.05.2021

 

1 Biogramm

Und wer im Leben weiterkommen will,
muss immer einen Fanghaken vorauswerfen
– gradaus, vor sich her, in die Zukunft
hinein –, an dem man sich dann vorwärts
ziehen kann.
(Krüss: Der Harmlos 1988, S. 359)

Die Werke des Dichters James Krüss werden in der Internationalen Jugendbibliothek auf Schloss Blutenburg bei München (ijb) in einem speziellen Turm, dem James- Krüss-Turm, für alle Bücherfreunde aufbewahrt. Dort befinden sich mehr als 700 Kinderbücher des Autors, übersetzt in viele Sprachen der Welt, davon 476 Bilderbücher, Kinderromane und Erzählungen, 106 Bände Anthologien und vieles mehr an Originalmanuskripten, darunter Reisebeschreibungen, Hörspiele und Bühnenfassungen eigener Texte. (Vgl. Schulz 2008, S. IX)

Die Deutsche Nationalbibliothek erfasst 640 Titel, die von ihm selbst verfasst wurden oder mit dem Namen James Krüss in Verbindung stehen.

James Krüss war einer der wichtigen Dichter für Kinder nach dem 2. Weltkrieg im 20. Jahrhundert und ist es bis in die Gegenwart hinein. Die Faszination seines Werkes hält an, wie u. a. die Verfilmung seines Bestsellers Timm Thaler oder Das verkaufte Lachen 2017 belegt (Regie des Films: Andreas Dresen).

James Krüss nennt sich selbst einen Insulaner (Der Harmlos 1988, S. 427), was einerseits auf den Geburtsort, die Insel Helgoland, zurückgeht, und andererseits auf seinen späteren Wohnsitz, das kleine Dorf La Calzada auf der Insel Gran Canaria, verweist. Dort lebte James Krüss seit 1966 mit seinem Lebensgefährten und dort starb er auch 1997. In der Nordsee vor Helgoland aber wurde er auf See bestattet.

Inselbewohner, so ist in Krüss‘ Werken zu entdecken, sind die Helden seiner berühmtesten Kinderbücher, der Urgroßvater und der kleine Boy und die Obergroßmutter. Und die Hummerfischertochter, seine Mutter, verweist auf die Hummerfischer, die den Hummer fangen und in seinem Longseller Der Leuchtturm auf den Hummerklippen bereits im Titel auftauchen.

Die Themen seiner Erzählungen und vieler Gedichte widerspiegeln das Leben der Leute auf der Insel, das Meer, das ihre Lebenswelt umgibt, und die Meerestiere, darunter der Walfisch und andere.

Mit seinem Geburtsort Helgoland in der Nordsee hat der Dichter noch andere Spezifika fürs Dichten mitbekommen. Er wächst im friesischen Sprachgebrauch auf und lernt das Deutsche nach eigener Aussage erst richtig auf dem Festland kennen. Aufgrund dieser ‚Zweisprachigkeit‘ beginnt er früh, hinter die Bedeutung der Wörter zu schauen und beschäftigt sich ein Leben lang damit, den Kindern in seinen Texten die Sprache und das Sprechen und damit die Sicht auf ihre Welt nahe zu bringen. Das Worte-Deuten nutzt er auch beim Übertragen und Übersetzen seiner und anderer Dichter Texte aus einer Sprache in die andere. Sprache und Sprechen thematisiert Krüss in seiner Lyrik, denkt man an die unzähligen ABC-Gedichte, wie sie in der Ausgabe des Carlsen Verlages mit dem Titel Von Anfang bis Zebra (2011/ Illustrationen von Sabine Wilharm) vorliegen. Da heißt es bei Krüss zum Buchstaben „A“:

Als man zu schreiben angefangen,
erfand man auch das Alphabet.
Da kam zuerst das A gegangen,
das adlerhaft am Anfang steht. […]
(Krüss 2011, S. 7)

Krüss’ Werke lassen sich bei aller Hinwendung zu seiner Insel nicht auf eine enge Heimatliteratur begrenzen, denn er ist welterfahren und ein weitgereister Mann, der von der Insel Helgoland über Locham und Gilching bei München, einen Aufenthalt auf der Insel Terschelling in Holland und mehrere Reisen nach Jugoslawien und Italien unternahm.

Dazu war er im Elsass, in der Schweiz und in Österreich. Letztendlich landete er auf der Insel Gran Canaria, womit noch nicht alle Orte, die er kennen lernte, benannt sind.

Krüss hat in seinem schriftstellerischen Schaffen die Welt und ihre Probleme im Blick und die Hoffnung, dabei zu helfen, diese Welt vor allem den Kindern und mit ihnen gemeinsam ein wenig bewohnbarer machen zu können.

Seinen Sprung von der Inselwelt auf das Festland thematisiert er selbst auf das Jahr 1942 mit dem Abschluss der Mittelschule und dem Besuch der Lehrerbildungsanstalt in Lunden, Schleswig Holstein. Im Spätsommer 1944 wird Krüss noch als Soldat zur Luftwaffe eingezogen. Da war der Krieg, den die Deutschen entfachten, längst verloren und kehrte zu den Verursachern, nach Deutschland, zurück. Das machte seine Heimat, die Insel Helgoland, für Jahre unbewohnbar.

Die Kriegszeit prägte Krüss. Er wird ein Streiter für eine friedliche Welt.

In dem Roman Der Harmlos, (1988) den man semiautobiografisch lesen kann und dessen Titel ein ganzes Programm seiner Weltsicht beinhaltet, beschreibt er auch seine Zeit als Soldat. In Anlehnung an Grimmelshausens Simplicius Simplicissimus (was so viel wie ‚Einfältiger’ bedeutet), dem Kriegsroman aus dem 30-jährigen Krieg, und an Eichendorffs Reise eines Taugenichts (Aus dem Leben eines Taugenichts), deren Heldenfiguren in ihrem Verhalten eher Antihelden sind, erzählt Krüss im Harmlos, was er im Krieg erlebte und wie er glücklicherweise, unbeschadet am Leib, aber zum Nachdenken über Hitler und die Deutschen geschult, daraus hervorging. Sein Held ist der Harmlos, noch ohne Harm, also ohne Unglück.

Krüss übernimmt von Eichendorff auch die Art des Erzählens und das Einfügen von Liedern in den epischen Text, was bereits lange vor dem Roman Der Harmlos (1988) für seine Kinderbücher typisch ist. Die Eichendorff-Lieder singt der Harmlos-Jaques, -Jockel, -Jäcki, wie sein Held, sich wandelnd, im Verlauf des Buches heißt, vor allem auf der Rückfahrt aus dem Krieg.

Krüss schließt nach dem Krieg 1948 das Lehrerexamen zum Volksschullehrer in Ratzeburg, Schleswig-Holstein, ab. Er arbeitet aber nicht als Lehrer, sondern gründet eine Zeitschrift für die in verschiedene Gegenden versprengten Helgoländer. Die Zeitschrift erschien bis 1956.

1949 geht Krüss nach München und weilt von da an nur noch besuchsweise im Norden.

Es ist sein zweiter Sprung auf das Festland, der in den Süden, und zugleich der Beginn einer reichen literarischen Produktion.

Krüss lernt Erich Kästner kennen, dessen Konferenz der Tiere (Kästner Die Konferenz der Tiere 1998, S. 255-316) er für den Funk bearbeitet. Seit 1951 erscheinen regelmäßig Gedichte für Kinder von James Krüss in Die Neue Zeitung und in der Süddeutschen Zeitung. Zudem schreibt und bearbeitet er Hörspiele und später Fernsehspiele zu eigenen Texten und solche von Dichterkollegen, vor allem von Erich Kästner. Zeitgleich mit seinen literarischen Veröffentlichungen entdeckte er das Reisen in die weite Welt, das hieß, in den weiteren Süden nach Italien, an die Adria nach Jugoslawien, nach Frankreich, Griechenland, Ungarn und bis Südafrika, Lateinamerika und die USA (1980 Empfang in New York durch den Verlag Atheneum). Krüss ist nicht nur weit gereist, sondern er hatte vor allem in Gran Canaria Besuch aus aller Herren Länder, darunter die Dichter Heinar Kipphardt, Janosch und in den 70er Jahren spanische Oppositionelle. Er schrieb sich Briefe u. a. mit Janosch, Peter Hacks und mit Astrid Lindgren. Krüss war ein Autor aus dem sog. ‘Westen‘, der zeitnah in der damaligen DDR verlegt und gelesen wurde. So erschienen im Kinderbuchverlag, Berlin seine Spatzenlügen (1957/ Ill. Elisabeth Shaw) und im Alfred Holz Verlag, Berlin Der verwirrte Großpapa (1969/ 1974, 3. Aufl./ Ill. Eberhard Binder).

James Krüss‘ erstes Bilderbuch 1953 trug den bezeichnenden Titel: Hanselmann reist um die Welt. 1956 und 1957 erblickten die beiden, heute als Kinderbuchklassiker bekannten Bücher, Der Leuchtturm auf den Hummerklippen und Mein Urgroßvater und ich, die literarische Kinderbuchwelt.

1962 bringt James Krüss Timm Thaler oder Das verkaufte Lachen heraus. Der Roman für junge Leser wird als Fernsehserie 1979 gestaltet und sehr erfolgreich gesendet. Das Buch wird zum Bestseller und liegt in mehreren Ausgaben vor, darunter als Sonderausgabe 2006 im Verlag Friedrich Oetinger. 2017 wird das Buch Timm Thaler oder Das verkaufte Lachen von dem namhaften Regisseur Andreas Dresen verfilmt.

Timm Thaler oder Das verkaufte Lachen ist ein gesellschaftskritisches Buch, in dem Krüss die “Zustände der Zeit in Bildern“ (Naivität und Kunstverstand 1969, S.122 ff.) veranschaulichen und mit Hilfe der fantastischen Literatur eine auf die Vernunft vertrauende Lösung von Problemen erreichen wollte (vgl. Kümmerling-Meibauer 2004, Bd. 2, S. 575).

Für sein Werk wurde James Krüss vielfach ausgezeichnet. So erhielt er 1960 und 1964 den Deutschen Jugendliteraturpreis, die höchstdotierte Auszeichnung in der Bundesrepublik Deutschland, 1968 den Internationalen Jugendbuchpreis für sein Gesamtwerk, die Hans-Christian-Andersen-Medaille, die weltweit für Kinderliteratur vergeben wird und dem Nobelpreis für Literatur vergleichbar ist.

Die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendliteratur e. V. mit Sitz in Volkach ehrte James Krüss zu seinem 70. Geburtstag mit dem Großen Preis als Würdigung seines literarischen Gesamtwerkes. Aus demselben Anlass bekam er 1996 den Bundesverdienstorden 1. Klasse.

Zu seinem 80. Geburtstag 2006 wurde dem weltbekannten Dichter auf Helgoland, seinem Geburtsort, ein Museum eingerichtet.

Die Erbengemeinschaft von James Krüss übergab 1998 den Nachlass des Dichters James Krüss der Internationalen Jugendbibliothek München (vgl. Reutsch, IJB). Seit 2013 vergibt die Krüss-Erbengemeinschaft den James Krüss Preis für Internationale Kinder- und Jugendliteratur.

 

2 Einblicke in das Werk von James Krüss und seine spezifische Ausprägung

2.1 Eine lyrische Sprache „mit zwei Paar Augen“ (Erich Kästner)

James Krüss war ein Dichter, der auszog, den Kindern Freundlichkeit zu zeigen und zu lernen, selbst freundlich zu sein. Mittels vielfältiger Sprachformen, speziell im Gedicht, lässt er die Kinder entdecken, was uns die Dinge dieser Welt lehren wollen:

[…] Geduld lehrt mich der Mandelbaum
Der Rabe lehrt mich keifen.
So lerne ich des Nachts im Traum,
Die Tage zu begreifen.
(Krüss Ich war einmal ein Eskimo 1989, S. 8)

Krüss, der begnadete Sprachkenner und Sprachenkönner, möchte in seinen Texten mit den Kindern philosophieren, aber so, dass es Spaß macht, wie in dem obigen Vers zu entdecken ist, wenn der Rabe ihm zu „keifen“ lehrt.

Die Lyrik des James Krüss zeichnet sich durch eine Vielfalt in der Themenwahl und unterschiedlichste Formen in der Gestaltung aus.

Krüss dichtet über die Elemente Feuer und Wasser, die Geschichte vom Sturm und über die Kinder Lies, Franz, Jakob Hatschie, Annabella Apfelstrudel, über die Blumenfrau und den Zauberer Korinthe und über ungezählte Tierkinder, wie Ameisen, Frösche, Nachtigallen, den Zirkushund, Einhornkinder und noch viele mehr (Der wohltemperierte Leierkasten 1989).

In seinen Gedichten parliert er, ähnlich Heinrich Heine, im Volksliedton: Der Garten des Herrn Ming (Der wohltemperierte Leierkasten 1989, S. 23). Er nutzt geschickt, wie seine Vorgänger Ringelnatz und Morgenstern, den Witz und die leise Ironie, führt den Nonsens -Vers in die Kinderliteratur wieder ein und erneuert ihn, Wenn die Möpse Schnäpse trinken (Der wohltemperierte Leierkasten 1989, S. 85). Und der Dichter spielt mit der Sprache so, dass man hinter das Gesagte schauen kann und es besser versteht, dieses:

Der. Die. Das./ Wer? Wie? Was? […]
(Der wohltemperierte Leierkasten 1989, S. 18).

Bei alledem beugt er sich nicht zum Kind herunter, sondern spricht mit ihm auf Augenhöhe.

Gedichte und Versprosa schreibt Krüss seit seinen frühen Anfängen. 1931 verfasst er ein erstes Gedicht in Helgoländer Friesisch. Dem folgen Balladen, Rundgesänge und verschiedene andere Gedichtformen in Hochdeutsch.

Mit Peter Hacks, dem Dichter, der 1956 aus der BRD in die DDR ging und seit den 60er Jahren zum meist gespielten Dramatiker Deutschlands neben Heiner Müller avancierte, schrieb Krüss bei einem Aufenthalt an der jugoslawischen Adria gemeinsam Kindergedichte, die sie später teilten. Eine Besonderheit in Krüss’ Schaffen ist es, dass er Anthologien für Kinder mit seinen eigenen Gedichten herausgibt.

Die erste und bekannteste Anthologie, Der wohltemperierte Leierkasten, erschien 1961, die nachfolgende, James Tierleben, 1965, durch die gleichnamige Fernsehsendung weit verbreitet. Damit gab Krüss einen Weg vor, dem andere, wie z. B. Peter Hacks mit Der Flohmarkt (Der Kinderbuchverlag/DDR 1965) folgten.

Krüss baut in seine Erzählungen (Der Leuchtturm auf den Hummerklippen/Mein Urgroßvater und ich) Gedichte der verschiedensten Formen, Balladen, Sprachspiele, ABC-Gedichte u. a. ein, so das Epische mit dem Lyrischen verbindend bzw. die Handlung, wie in Der Leuchtturm auf den Hummerklippen, abwechslungsreich unterbrechend, wenn es dort heißt:

 Die gereimte Geschichte von der Schildkröte Pia Maria

Die Schildkröte Pia Maria,
Die lebt seit vergangenem Mai
Am Strande von Santa Lucia,
Beschäftigt mit Feinstrickerei […]
(Krüss 2006, S. 85)

James Krüss ist ein Kenner der deutschen Literatur, darunter der Kinderpoesie. Seine Auswahl an Gedichten, die er in der Anthologie So viele Tage wie das Jahr hat/ 365 Gedichte für Kinder und Kenner (1959/ 1986), herausgab, erfasst einen Zeitraum an Gedichten für Kinder, der mit der mittelalterlichen deutschen Dichtung beginnt, das Volkslied als frühe lyrische Form für Kinder einschließt, deren Entstehung, dem Märchen ähnlich, im Dunklen liegt, und bis zu Bertolt Brecht, Josef Guggenmos und den Krüss-Freunden Erich Kästner und Peter Hacks reicht. Vielfalt an Themen und Gestaltung findet sich in James Krüss’ eigenen Texten wieder. Vertraut sind den Lesern Gedichte, wie Der Zauberer Korinthe; ABC, ABC, Arche Noah sticht in See und viele andere.

Wiederholungen, Elemente, die sich leicht einprägen beim Sprechen, finden sich auch in den Versen des Gedichtes „Ich war einmal ein Eskimo“ (Krüss 1989, S. 8), das spielerisch, in Form des Kreuzreimes, beginnt, wenn geschrieben steht, was man alles ‘gewesen‘ sein könnte, vielleicht als Leser:in auch sein möchte:

Ich war einmal ein Eskimo
Ich war einmal ein Schotte,
Ich war einmal ein Wasserfloh,
Ich war mal eine Motte […]
(Krüss 1989, S. 8)

Das Gedicht beginnt ab der 3. Strophe das bisher Gesagte philosophisch zu diskutieren und zu überlegen, was der Lesende aus dem Text ‘lernen‘ könnte. So, wenn das lyrische Ich betont, dass er vom „Raben“ gelernt hat, wie man „keift“ und vom „Mandelbaum“, was es heißt, „Geduld“ zu haben (Krüss 1989, S. 8). James Krüss fühlt sich den Dichtern der Romantik, wie Chamisso und Eichendorff, nahe, wenn es bei ihm in dem Gedicht „Ein, Eich- Mondhorn“ heißt:

Ein Einhorn stand in einem Garten
Um dort das Mondhorn zu erwarten.
O Mond, o silberner Mond. […]
(Krüss in Schulz 2008, S. 103).

2.2 Krüss-Gedichte werden zu Bilderbüchern und regen zum Lesen/ Sprechen/ Singen und zur Bildbetrachtung an

Zu den Bilderbüchern, die einzelne Texte von James Krüss, vor allem Gedichte, zu Klassikern gemacht haben, gehören: Wenn die Möpse Schnäpse trinken (Pixi-Reihe 1998), Der Garten des Herrn Ming (Pixi-Reihe 2000/ vgl. Schulz 2008, S. 89-94), entnommen den Sammlungen Der wohltemperierte Leierkasten (1989, S. 23 und S. 85) und Der Zauberer Korinthe, der Bestseller unter den Krüss-Gedichten, der ursprünglich aus Krüss’ Erzählband Mein Urgroßvater und ich stammt. Der Auszug des nachfolgenden Gedichtes ist dem Bilderbuch

Die Weihnachtsmaus (1998) entnommen, in dem die Reihenfolge der Strophen von der im Urgroßvater (2005) etwas abweicht.

Der Zauberer Korinthe

Es lebte einst der Zauberer
Kori, Kora, Korinthe.
Der saß in einem Tintenfass
Und zauberte mit Tinte.

Wenn jemand damit Briefe schrieb
und schmi und schma und schmollte,
Dann schieb er etwas anderes,
als was er schreiben wollte.

Einst schrieb der Kaufmann Steenebarg
Aus Bri, aus Bra, aus Bremen
An seinen Sohn in Dänemark:
„Du solltest dich was schämen!“

Doch als der Brief geschrieben war,
mit Schwi, mit Schwa, mit Schwunge,
da stand im Brief: „Mein lieber Sohn,
du bist ein guter Junge.“

Da schmunzelte der Zauberer
Kori, Kora, Korinthe
Und schwamm durchs ganze Tintenfass
Und trank ein bisschen Tinte.
[…]
(Krüss 1998, S. 16)

Das Gedicht wurde aus der Erzählung Mein Urgroßvater und ich herausgelöst, illustriert und zu einem Bilderbuch gestaltet und führt von da an ein Eigenleben.

Der Vorzug besteht für die Lesenden darin, dass die Strophen im Buch nicht kompakt hintereinander auf den Seiten stehen, sondern, unterschiedlich in der Anzahl, zwischen Bildern verteilt sind, bzw. umgekehrt, die Bilder die Anordnung der Strophen bestimmen. Die Aufgliederung des Textes motiviert die Lesenden, weil man erfolgreich eine Strophe nach der anderen sich vornehmen und sie sprechend /lesend/ singend bewältigen kann.

 2.3 “Haltet die Uhren an, vergesst die Zeit. Ich will euch Geschichten erzählen“: Mein Urgroßvater und ich, Der Leuchtturm auf den Hummerklippen, Im Krug zum grünen Walfisch und Timm Thaler oder Das verkaufte Lachen – Bestseller bis heute

James Krüss ist ein Geschichtenerzähler, der uns die Zeit vergessen lassen will und uns doch in Räume und Zeiten hineinzieht, die wir bisher so nicht kannten: Das Meer, die Inseln, die Inselbewohner, die Hummerfischer und andere Leute, Tiere, die sprechen und erzählen können und vieles mehr.

Die Zeit ist manchmal die aus den Märchen, wenn es im Buch Gäste auf den Hummerklippen heißt: „In den Zeiten, als das Wünschen noch geholfen hat…“ (Krüss 2003, S. 7).

Dass der Ich-Erzähler zu dieser Zeit “noch nicht geboren“ war, das führt zugleich in eine andere Zeit, in die Zeit, die den Lesenden nahe ist. Krüss’ Erzählungen spielen häufig am und auf dem Meer. Der Blick auf das Meer sucht den Horizont und entdeckt die Schiffe, die aus der weiten Welt kommen, in die manche Helden des James Krüss fahren müssen, wie Timm Thaler, der sein verlorenes Lachen wiederfinden will.

James Krüss ist ein Geschichtenerzähler, der eine seit Jahrhunderten in der Welt geübte Erzähltradition bewusst nutzt, wie sie Goethe trefflich beschreibt:

Der Rhapsode, so Goethe, trägt das vollkommen Vergangene vor, er übersieht das Geschehen, erzählt so, dass ihm die Zuhörer gern und lange zuhören, geht nach Belieben rückwärts und vorwärts in seiner Geschichte, denn er hat es nur mit der ‘Einbildungskraft zu tun, die sich ihre Bilder selbst hervorbringt. (Goethe 1998, Bd.12, S. 251)

So verstandenes Erzählen braucht Erzählende und Zuhörende/Lesende.

Es ist die ursprünglich mündliche Form der Weitergabe von Erzählenswertem mit einer Tradition, die so alt ist, wie der Mensch dem Menschen etwas erzählt.

Diesen über Generationen reichenden Erzählfaden greift Krüss bewusst in seinen Erzählungen für Kinder auf. Es ist z. B. der Urgroßvater (Hervorhebung – G. S.), von dem der kleine Boy auf dem Leuchtturm auf den Hummerklippen „eine ganze Woche lang Geschichten gehört“ hat und, als der kleine Boy zehn Jahre alt ist und die Schwestern an Masern erkrankt sind, kann er sich wieder auf eine „Geschichtenwoche“ freuen, diesmal auf dem Oberland der Insel Helgoland (Krüss 2005, S. 13). Den Erzähler selbst variiert Krüss in seinen Erscheinungsformen. Er tritt als auktorialer Erzähler auf, der über den Dingen steht und um den Verlauf, vor allem um das Ende des Geschehens Bescheid weiß. Diese Form des Erzählers wählt Krüss in seinem Kinderroman Timm Thaler oder Das verkaufte Lachen, dabei im Vorspiel bewusst seine von ihm bevorzugten Erzählweisen reflektierend, indem er dem Freund vorschlägt: „Sag ‚ich’ oder ‚er’, ganz wie es dir beliebt. Hauptsache, du erzählst mir seine Geschichte“ (Krüss Timm Thaler […], 2006, S. 17). So beiläufig, wie Krüss hier auf die Erzählweisen eines auktorialen (Er-) oder Ich-Erzählers reflektiert, so beiläufig setzt er den Erzähler niemals ein, sondern stets im Hinblick auf das zu Erzählende und auf Lesende/ Hörende. Im Buch Mein Urgroßvater und ich (Krüss 2005) haben wir es einerseits mit einem Ich-Erzähler zu tun, wie der Titel des Buches bereits ankündigt. Diese Wahl rückt den Erzähler dicht an die Lesenden/ Zuhörenden heran. Gehört wird von den Erlebnissen und Reflexionen eines Ich, wie sie Lesende auch machen könnten.

Allerdings bedeutet diese Wahl, wenn sie z. B. die aus der Sicht eines Kindes ist, einen eingeschränkten Blickwinkel auf die Welt. Der wird nur glaubwürdig, wenn die Erzählerfigur von den Erfahrungen her der durch sie vermittelnden Weltsicht gerecht wird. Weil Krüss aber immer auf Entwicklung der Lesenden/ Zuhörenden setzt, führt er die Lesenden im genannten Buch andererseits aus dieser zum Teil eingeschränkten Sicht des Ich-Erzählers hinaus, indem er andererseits den Urgroßvater als auktorialen Erzähler Geschichten ausbreiten lässt.

Die kann der kleine Boy noch nicht kennen, wenn er z. B. im selben Buch über den hinkenden Jonathan, über Si und io oder: Die schönen Tage von Neapel, über Maxl, das Murmeltier u. a. erzählt (Krüss: Mein Urgroßvater und ich, 2005, S.19, 34, 53).

Eine dritte Form des Erzählens, die personale Erzählweise finden wir in Krüss’ Erzählband Im Krug zum grünen Walfisch. In der Erzählung Geschichte, einer Königin erzählt, nutzt Krüss, um das Geschehen aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten zu können, eine reflektorische Erzählweise, die er mit Elementen der Er-Erzählung verbindet. Er ermuntert dadurch die Lesenden/ Zuhörenden mit den Augen des Reflektors, das Geschehen zu betrachten.

2.4 Die Erzählung Timm Thaler oder Das verkaufte Lachen – ein Bestseller und Film

In der Geschichte über Timm Thaler oder Das verkaufte Lachen (Krüss 2006) geht es um die Verführbarkeit des Menschen, die Preisgabe seines eigenen Ich mittels materieller oder ideeller Belohnung, wie sie Goethe im Faust darstellt. (Goethe 1998, Bd. 3)

Ähnlich der Goetheschen Dichtung nutzt auch James Krüss das Motiv der Wette zwischen einem Verführer und dem Verführten – in Krüss’ Fall – einem unschuldigen, in Not geratenen kleinen Jungen, Timm Thaler, und einem Gauner, Baron L. Lefuet, der mephistophelische Züge trägt, wie sich herausstellen wird. Gewettet wird um etwas, was zum Menschsein des Verführten gehört, ihm aber im Moment des Wettvertrages nicht so wichtig erscheint, sein Lachen. Das aber fehlt dem Verführer.

In James Krüss’ Kinderroman kauft der Verführer Lefuet, dessen Namen als Anagramm gelesen, Teufel heißt, dem Jungen Timm Thaler sein Lachen ab.

Ob Lefuet aber in einer auf die Realität verweisenden Geschichte der Teufel ist, wie er in Sagen auftritt, diese Erkenntnis überlässt Krüss den Lesenden, welche die vielschichtigen Andeutungen darüber im Buch sehr genau lesen müssen. James Krüss hat dem Titel der Erzählung zu Beginn Erläuterungen hinzugefügt, die das Wesentliche der Geschichte andeuten und den Leser neugierig machen sollen, wenn es heißt:

TIMM THALER
oder
Das verkaufte Lachen

Die Geschichte
von dem kleinen Jungen
und dem großen Geld,
vom Lachen und vom Weinen,
vom Wettgeschäft und
einem sehr karierten Herrn.
Erzählt von Timm,
dem Marionettenspieler.
Aufnotiert für alle,
die noch lachen können
von
James Krüss
(2006, S.3)

 

In James Krüss’ Erzählung von Timm Thaler oder Das verkaufte Lachen geht es um existenzielle Fragen der jungen Leute,

  • um Verführbarkeit durch Reichtum,
  • darum, was wichtig im Leben ist,
  • was Freundschaft bedeuten und
  • wie man Schwierigkeiten im Leben meistern kann.

Die faszinierende, bewegende Erzählung führt zu einem guten Ende, denn Freunde helfen dem Timm Thaler sein „Lachkanönchen“ wieder zu bekommen, auch wenn man dazu in die weite Welt hinein gehen und für sein Glück kämpfen muss.

 

3 Rezeption

Krüss besitzt Naivität und Kunstverstand, um dichten zu können und die Fähigkeit, beides in seinen Texten umzusetzen.

Sich mit dem lyrischen und epischen Werk von James Krüss zu befassen, das heißt, sich mit einem auseinander zu setzen, für den die Sprache das wichtigste Mittel war, den Kindern die Welt zu erschließen. Den Lehrenden gibt er zugleich Tipps, wie man z. B. mit Gedichten umgehen sollte. Gedichte, so Krüss

[…] sind dazu da, gesprochen und ständig wiederholt zu werden.
Während das Kind in die Sprache hineinwächst,
wächst es zugleich in die Welt hinein.
(Naivität und Kunstverstand 1969, S. 14)

Diese Art der Sprach- und Weltbetrachtung von einem, der sich u. a. in Serbokroatisch verständigen konnte und in Spanisch Vorträge hielt und viele Gedichte aus anderen Sprachen ins Deutsche übertragen hat (vgl. aus dem Italienischen: Gianni Rodari Kopfblumen 1972), zeigt zugleich einen Lehrer, der Krüss einmal werden wollte.

Das Lernen lehren spielt in seinen Texten eine große Rolle, so, wenn der Urgroßvater dem kleinen Boy etwas beibringt, aber auch von ihm lernt (Krüss, Mein Urgroßvater und ich 1959 / 2005) oder der Zauberer Korinthe als der Geist der Aufklärung zum Überdenken eigenen Verhaltens und Handelns anregt.

James Krüss ist als Erzähler ein Weltautor, dessen Bestseller, wie Der Leuchtturm auf den Hummerklippen, Mein Urgroßvater und ich und Timm Thaler oder Das verkaufte Lachen

ins Japanische, Italienische, Amerikanische, Englische, Serbische, Holländische, Polnische, Französische und auch in das Estnische (2004), ins Bulgarische (1989, 2004) und ins Chinesische (2002) übersetzt wurden.

Damit sind noch längst nicht alle Länder erfasst, in denen man seine Bücher lesen kann.

Erzählen in der Art des James Krüss ist auch in der Ontogenese des Menschen die Form, mit der sich Kinder die Sprache aneignen, um sich selbst „unmittelbar und mittelbar verständlich zu machen, um ‚sich’ zu erzählen, ihre Situation und ihre eigenen Bedeutungserlebnisse wie auch ihre Reflexionen und Fantasien ’zu Wort kommen’ zu lassen“ (Hurrelmann 2001, S. 88).

Dazu brauchen sie Geschichten, wie sie Krüss erzählen kann, weil sie darin „fremde Erlebnisse, Weltdeutungen, Reflexionen und Fantasien“ (Hurrelmann 2001, S. 88) kennen lernen, die ihre Weltsicht erweitern, Geschehnisse vergleichbar machen, ihre Erzählmuster und ihr sprachliches Material anreichern.

James Krüss beherrschte alle traditionellen Erzählformen und machte daraus Neues, womit er die Kinderliteratur bereicherte, was letztendlich seine Bücher, darunter den Timm Thaler oder Das verkaufte Lachen, zu Bestsellern machte und den Autor weltberühmt.

 

Literaturverzeichnis

Primärliteratur

  • Goethe, Johann Wolfgang: Über epische und dramatische Dichtung. In: Ders.: Schriften zur Kunst und Literatur. Werke., Bd. 12. München: dtv 1998.
  • Hacks, Peter: Der Flohmarkt. Berlin [DDR]: Der Kinderbuchverlag 1965.
  • Kästner, Erich: Die Konferenz der Tiere. In: Ders.: Romane für Kinder II. München/ Wien: Hanser 1998.
  • Krüss; James: Der Harmlos. Frühe Jahre. Roman. Hamburg: Rasch und Röhring 1988.
  • Krüss; James: Der Leuchtturm auf den Hummerklippen. Mit Ill. v. Jutta Bauer. Hamburg: Carlsen 2006.
  • Krüss, James: Der verwirrte Großpapa. Mit Ill. v. Eberhard Binder. Berlin [DDR]: Alfred Holz 1974, 3. Aufl.
  • Krüss, James: Der wohltemperierte Leierkasten. 12 mal 12 Gedichte für Kinder, Erwachsene und andere Leute. Mit einem Nachwort von Erich Kästner. Mit Ill. v. Elfriede und Eberhard Binder. München: Bertelsmann Jugendbuch 1989.
  • Krüss: Die Weihnachtsmaus. Mit Ill. v. Annette Swoboda. Köln: Boje 2019.
  • Krüss, James: Gäste auf den Hummerklippen. Hamburg: Carlsen 2003.
  • Krüss, James: Im Krug zum grünen Walfisch. Nebelgeschichten. Mit Ill. v. Hauke Kock. Hamburg: Carlsen 2001.
  • Krüss, James: Hanselmann reist um die Welt. Oldenburg: Stalling Bilderbuch Nr.122, 1953.
  • Krüss, James: James Tierleben. Mit Ill. v. Eberhard Binder. Berlin [DDR]: Der Kinderbuchverlag 1986.
  • Krüss, James: Mein Urgroßvater und ich. Mit Ill. v. Jochen Bartsch. München: Süddeutsche Zeitung Junge Bibliothek 2005.
  • James Krüss: Spatzenlügen. Mit Ill. v. Elizabeth Shaw. Berlin [DDR]: Der Kinderbuchverlag 1957.
  • Krüss; James: Timm Thaler Oder das verkaufte Lachen. Titelbild v. Katrin Engelking. Hamburg: Oetinger 2006/Verfilmung 2017 (Regisseur: Andreas Dresen).
  • Krüss, James: Von Anfang bis Zebra. Mit Ill. v. Sabine Wilharm. Hamburg: Carlsen 2011.
  • Rodari, Gianni: Kopfblumen. 7 X 7 Gedichte für Kinder. Übersetzt und in 7 Sträuße gebunden von James Krüss. Ill. v. Eberhard Binder. Berlin [DDR]: Der Kinderbuchverlag 1972.
  • Schulz, Gudrun: James Krüss’ Erzählungen, Bilderbücher, Gedichte in Grundschule, Sekundarstufe I und in der Vorschule. Hrsg. von Günter Lange: Kinder- und Jugendliteratur im Unterricht, Bd.7. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren 2008.
  • So viele Tage wie das Jahr hat. 365 Gedichte für Kinder und Kenner gesammelt und herausgegeben von James Krüss. Mit Ill. v. Eberhard und Elfriede Binder. München: C. Bertelsmann 1959.

 Sekundärliteratur

  • Hurrelmann, Bettina: Erzählen. In: Heckt, Dietlinde H./Neumann, Karl (Hrsg.): Deutschunterricht von A – Z. Braunschweig: Westermann 2001.
  • Krüss, James: Naivität und Kunstverstand. Gedanken zur Kinderliteratur. Weinheim, Berlin, Basel: Beltz 1969.
  • Kümmerling-Meibauer, Bettina: Krüss, James. In: Dies.: Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur. Ein internationales Lexikon. Bd. 2. Stuttgart, Weimar: Metzler 2004.

 Internetquellen

 Film

  • Timm Thaler oder Das verkaufte Lachen (R. Andreas Dresen, BRD 2017)

Unterrichsmaterial

  • Unterrichtsideen, einschließlich Arbeitsblättern zu ausgewählten Texten von James Krüss. In: Gudrun Schulz: James Krüss‘ Erzählungen, Bilderbücher, Gedichte in Grundschule, Sekundarstufe I und in der Vorschule. Schneider Verlag 2008.