Paul Maar
geboren am 13. Dezember 1937 in Schweinfurt
Schriftsteller, Lyriker, Theater- und Drehbuchautor im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur
Dr. Jana Mikota / Dr. Claudia Maria Pecher
veröffentlicht am 19.10.2020
1 Biogramm
Paul Maar wuchs nach dem Tod seiner Mutter und der Wiederverheiratung seines Vaters bei seinen Großeltern in Theres, einem mainfränkischen Dorf in der Nähe von Schweinfurt, auf. Über die Beziehung zu seinem Vater, der 1947 aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehrte, sowie seine Kindheit schreibt Maar in seinem autobiografischen Roman Wie alles kam. Roman meiner Kindheit (2020). Er besuchte das Gymnasium in Schweinfurt und studierte nach dem Abitur an der Kunstakademie in Stuttgart Malerei und Kunstgeschichte. Neben dem Studium arbeitetet er im fränkischen Theater Schloss Maßbach. Anschließend war er sechs Jahre als Kunsterzieher tätig, 1966 wurde sein Hörspiel Der Turm im See im Süddeutschen Rundfunk gesendet. 1968 erschien sein erstes Kinderbuch Der tätowierte Hund im Oetinger-Verlag, das Debüt kam auf die Auswahlliste zum Deutschen Jugendbuchpreis (seit 1981 Deutscher Jugendliteraturpreis) und ebnete den weiteren Weg für sein Schaffen als Kinder- und Jugendbuchautor und Illustrator. Er ist mit der Familien- und Psychotherapeutin Nele Maar verheiratet, mit der er Bücher aus dem Englischen und US-Amerikanischen übersetzt hat. Seine Tochter Anne und sein Sohn Michael sind ebenfalls Schriftsteller.
Seit 1987 ist Paul Maar Mitglied in der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur und hat im Rahmen seines Engagements den Nachwuchspreis der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur ins Leben gerufen, der 2017 in Korbinian – Paul Maar-Preis für junge Talente unbenannt wurde.
Für sein Werk erhielt er zahlreiche Preise: 1987 wurde er mit dem Großen Preis der Deutschen Akademie für sein Gesamtwerk ausgezeichnet, 1996 bekam er den Deutschen Jugendliteraturpreis für sein Gesamtwerk. 1997 wurde er für den Internationalen Jugendbuchpreis Hans-Christian-Andersen-Medaille, 2012 für den Astrid Lindgren Gedächtnispreis nominiert und 2000 bekam er den E.T.A.-Hoffmann-Preis der Stadt Bamberg.
2 Überblick über das Werk: Wichtige Textsorten und Werke
Paul Maar gehört zu den renommiertesten Kinder- und Jugendbuchautor:innen im deutschsprachigen Raum und schreibt vor allem für Kinder bis zum 12. Lebensjahr. Dabei zeigt sich eine große Vielfalt und Kreativität in seinem Œuvre, denn Paul Maar reimt und spielt mit Sprache und blickt auf ein breites Spektrum von Gattungen und kinderliterarischen Genres zurück wie kaum ein anderer deutschsprachiger Kinder- und Jugendbuchautor. Sein Werk umfasst ca. 140 Bilderbücher, Erstlesebücher, Bücher für Kinder sowie Anthologien und zeichnet sich neben dem Spiel mit Sprache auch durch Komik und intertextuelle Verweise aus. Er nutzt das Mittel der Komik, um tradierte Wertvorstellungen und autoritäre Denkmuster zu hinterfragen. Dabei greift er, insbesondere in der beliebten Sams-Serie auf vertraute Situationen zurück, die aus ungewöhnlichen Perspektiven neu beleuchtet und neu erzählt werden. Seine Kinderromane gehören überwiegend der fantastischen Literatur an, realistische Texte wie die Romane Kartoffelkäferzeiten (1990) und Andere Kinder wohnen auch bei ihren Eltern (1976), Neben mir ist noch Platz (1993/2016) sowie Die Eisenbahn-Oma (1981), in dem von der Beziehung zwischen den Generationen erzählt wird, bilden eine Ausnahme. Günter Lange hält fest, dass insbesondere die fantastische Literatur „für Paul Maar wie geschaffen“ (Lange 2012, S. 7) sei, denn Maar kann hier seine Kreativität und Phantasie frei entfalten. Auch nach Hopp ist Maars Werk „von der Lust am Fabulieren geleitet“ (Hopp 2016, S. 51) und spiegelt weniger die Veränderungen der Kindheit seit den 1970er Jahren wider. Seine Darstellung von Kindheit ist in dem Großteil seines Werkes von einer Zeitlosigkeit und Allgemeingültigkeit geprägt. Paul Maar erklärt es mit dem „verletzten Kind“ (Maar 2007, S. 20), das er in sich trägt und das ihm verbietet, „Bilder von zerrütteten Familien und geschlagenen Kindern“ (Maar 2007, S. 20) zu schreiben. Vielmehr konzentriert er sich auf „Trostgeschichten und Theaterstücke mit einem guten Ende“ (Maar 2007, S. 20). Ein Teil seiner Bücher wurde verfilmt und/oder als Hörspiel/Hörbuch adaptiert. Eine weitere Besonderheit ist, dass Paul Maar seine Kinderbücher oft selbst illustriert.
2.1 Lyrik
Paul Maar schreibt Gedichte, Sprüche, Limericks und Erzählgedichte für unterschiedliche Altersstufen und variiert vertraute Muster mit neuen Gedanken. Er experimentiert dabei mit Sprache, Redensarten und Redewendungen, kehrt diese oft semantisch ins Gegenteil um und interpretiert bekannte diese neu. Dabei spielen vor allem Klang, Rhythmus sowie Gestus eine wichtige Rolle. Exemplarisch soll das Spiel mit Traditionen anhand des Gedichtes Frühlingsblühen vorgestellt werden:
Frühlingsblühen
Wenn die Frühlingsblumen blühen
Stehn die Wiesen voll mit Kühen,
welche sich der Blüten freuen,
sie fressen und dann wiederkäuen.
(Maar 2016, S. 46)
Während der Titel samt der ersten Zeile etwas Vertrautes schildert, ein Frühlingsgedicht andeutet, wird bereits in der zweiten Zeile das Unerwartete in Form des Paarreimworts „Kühen“ gebrochen und die weiteren Zeilen deuten zwar die Schönheit der blühenden Wiesen an, die jedoch von den Kühen gefressen werden. Maar zeigt die Widersprüchlichkeit zwischen dem Schönen und dem Nützlichen und verwendet hierfür das Mittel der Komik. Nach Gudrun Schulz steht Maar mit seinen Gedichten in der Tradition von Christian Morgenstern, Joachim Ringelnatz oder Bertolt Brecht und bereichert den Kinderreim mit neuen Gedanken (vgl. Schulz 2016, S. 109). Der „Wortakrobat“ und „Verse-Erfinder“ (Lange 2012, S. 17) Paul Maar erzählt in seinen Gedichten von Naturerlebnissen, vom Fantastischen und Realistischen, von Kindern und/ oder Erwachsenen in witzig-frechen und nachdenklichen Versen. Seine Gedichte bieten vielerlei Möglichkeiten, um über Sprache zu reflektieren und eine phonologische Bewusstheit zu fördern. Dazu gehören bspw. auch Maars Wortverdrehungen wie in seinen Schüttelreimen, in denen Phoneme vertauscht werden (vgl. auch Grimm 2017, S. 257):
Bitte stelle deine Rose
Nur in eine reine Dose!
(Maar 2007, S. 55)
Seine Gedichte finden sich nicht nur in Lyrik-Anthologien wie Dann wird es wohl das Nashorn sein. Rätselhaftes ABC (1988), Kakadu und Kukuda (2016) oder JAguar und NEINguar (2007), sondern auch in den Kinder- und Erstlesebüchern. In Letzterem werden die Figuren selbst zu Verseerfindern und Wortumdrehern (vgl. auch Josting/Kruse 2016).
2.2 Bilderbuch
Paul Maar schreibt nicht nur Bilderbücher, sondern illustriert diese auch. Anders als in seinen Kinderbüchern, die er oft selbst illustriert, tritt er im Bilderbuch nicht als Künstler und Autor auf, sondern schreibt entweder den Text, der dann von Künstler:innen wie Nikolaus Heidelbach bebildert wird, oder er illustriert Texte von Autor:innen wie bspw. Die Biberburgenbaumeister, zu dem der Text von seiner Tochter Anne stammt. Jantzen hält fest, dass von den etwa 40 Bilderbüchern 2/3 gereimt sind (vgl. Jantzen 2016, S. 147). Das Spektrum reicht dabei von einfachen Pappbilderbüchern (bspw. Wer klopft bei Mimi an der Tür, 2009) über Vorlesebilderbücher bis hin zu komplexen Erzählbilderbüchern wie Drei miese, fiese Kerle (2008) von Paul Maar und bebildert von Susann Opel-Götz. Paul Maar übersetzt auch Bilderbücher oder schreibt gemeinsam mit seiner Frau Nele. Neben realistischen Bilderbüchern finden sich in seinem Œuvre auch historische Erzählungen, Märchenbilderbücher und fantastische Geschichten.
2.3 Erstleseliteratur
In den Erstlese-Reihen Sonne, Mond und Sterne, Laterne, Laterne und Lesestarter schreibt und illustriert er Bücher für Leseanfänger:innen, ohne jedoch auf seine spezifischen Charakteristika als humorvoller Erzähler zu verzichten. Erstlesetexte wie Der Wutkuchen (2008) erzählen aus dem kindlichen Alltag, aber bereits im Titel kreiert Maar neue Wörter und lädt ein, mit der Sprache zu spielen. Das fordert Kinder in den ersten Lesejahren heraus, inspiriert sie zugleich und weckt die Lust an der Lektüre und Sprache. Neben realistischen Stoffen, die aktuelle Probleme heutiger Kinder aufgreifen, schreibt Maar in diesen Reihen auch fantastische Geschichten wie Der Buchstabenfresser (1996) oder Die Geschichten vom kleinen Känguru (1989-2001). In Die vergessene Tür (1982) findet der Sohn Markus einen Schlüssel, der ihm, seinem Vater und seiner Schwester eine neue, fantastische Landschaft auf dem Dachboden eröffnet. Was das Erstlesebuch jedoch besonders macht, sind neben den märchenhaften Elementen auch die intertextuellen Verweise auf die Grimm’schen Märchen. Dabei spielt er mit dem Wissen der Kinder, denn Markus trifft in der fantastischen Welt auf ein Haus, dessen Dach aus Lebkuchen gebaut ist und kommentiert es: „Mann! Beinahe hätte ich eine große Dummheit gemacht!“ (Maar 1987, S. 5). Aber auch in seinen Erstlesebüchern nutzt Paul Maar Reime, um Kindern neben dem Lesenlernen ebenso die Freude an der Sprache zu vermitteln. Er hat mehrere ABC-Bücher verfasst, die in der Reihe Büchersterne 1. Klasse im Oetinger-Verlag erschienen sind und somit als Bücher für das erste Lesejahr bezeichnet werden. Verfasst in großer Fibelschrift, soll die erste Lesestufe „einfache Worte und kurze Sätze“ beinhalten. Maars Das Schul-ABC, illustriert von SaBine Büchner, trägt bereits den Untertitel Verse zum Mitraten und Mitreimen. Es folgt dem klassischen Muster der ABC-Bücher, setzt mit dem ersten Buchstaben des Alphabets ein, baut aber die einzelnen Buchstaben in seine Verse ein:
Mutter sagt zu Anna: „Nein!
Ich pack dir keine Waffeln ein.
Obst zur Pause, das hält fit“,
und gibt ihr einen Apfel …
(Maar 2013, S. 5)
Das letzte Reimwort fehlt, die Kinder werden aufgefordert, es zu ergänzen. Schüler:innen werden spielerisch auf bestimmte Textmerkmale gelenkt, schulen auch ihre phonologische Sprachbewusstheit.
Maars Erstlesebücher sind einfache, aber auch anspruchsvolle Texte, die sich durch eine Lust am Fabulieren und dem Spiel mit Sprache auszeichnen. Er nimmt somit auch im Bereich der Erstleseliteratur eine wichtige Stellung ein und setzt in seinen Büchern für ein junges Lesepublikum neue Akzente.
2.4 Fantastische Kinderliteratur
1968 erscheint Paul Maars erstes Kinderbuch mit dem Titel Der tätowierte Hund. Der Titel lässt, so Wicke und Lange, eine Nähe zu Bradburys Der illustrierte Mann (1951) zu, einem Band mit Science-Fiction-Erzählungen, zu (Lange 2007, Wicke 2014). Der tätowierte Hund ist eine Sammlung von acht Geschichten, die eine Rahmenhandlung besitzen. In dieser begegnet ein Löwe einem Hund, der statt eines Fells eine glatte und rosige Haut hat. Diese war „ganz und gar bedeckt […] mit Mustern, Zeichnungen und feinen blauen und roten Malereien“ (Maar 82014, S. 8). Der tätowierte Hund erzählt insgesamt sechs Geschichten, der Löwe zwei. Eine davon ist bspw. eine veränderte Fassung des Märchens Hänsel und Gretel der Brüder Grimm. In Maars Text wird die Hexe als eine freundliche ältere Dame eingeführt, die gerne backt und ihr „Häuschen aufs Wunderlichste“ (Maar 82014, S. 29) schmückt. Hänsel und Gretel dagegen werden als ungezogene Kinder dargestellt, die die Gastfreundlichkeit der Hexe missbrauchen und sogar erzählen, sie hätte sie fressen wollen. Nachdem der Löwe seine Geschichte beendet hat, reagiert der tätowierte Hund verwundert:
„Ich muss sagen“, entgegnete der Hund, „ich habe die Geschichte nicht so erzählt bekommen. Da hörte sich alles ganz anders an, obwohl eigentlich das Gleiche geschah“ (Maar 82014, S. 34).
Maar greift bereits in seinem Debüt das auf, was sein gesamtes Werk kennzeichnet und setzt selbstverständlich ein Spiel mit intertextuellen Verweisen im Kinderbuch ein. Er spielt mit Lesererwartungen, schreibt Grimm‘schen Märchenerzählkonventionen eine neue Lesart ein, verändert zudem in seinen Geschichten die Macht-Verhältnisse und ordnet diese neu.
1973 erscheint der zum modernen Klassiker avancierte erste Band der mehrbändigen Reihe um das Wesen Sams, seine Wunschpunkte sowie Herrn Taschenbier. Die Sams-Reihe lässt sich der fantastischen Kinderliteratur zuordnen und erzählt von dem schüchternen Herrn Taschenbier, der an einem Samstag dem Wesen Sams begegnet. Da Herr Taschenbier den Namen des rothaarigen und sommersprossigen Wesens richtig mit dem Namen „Sams“ benennt, wird er als „Papa“ bezeichnet und muss sich um das Sams kümmern. Herr Taschenbiers Welt gerät durcheinander, denn Sams bekommt die Funktion eines Katalysators zugewiesen: Mit seiner Frechheit, Aufmüpfigkeit, Gefräßigkeit und Ich-Bezogenheit widersetzt es sich den Konventionen und Autoritäten. Herr Taschenbier lernt in seiner Beziehung zum Sams sich zu wehren und sich nicht alles gefallen zu lassen. Ähnlich wie auch Herr Taschenbier lernt auch das kindliche Lesepublikum Autoritäten zu hinterfragen. Aufgrund dieses Erzählmusters wurde der fantastische Kinderroman, der in einer Zeit entstanden ist, in der sich ein problemorientierter realistischer Kinderroman herausbildete, der antiautoritären Kinderliteratur zugeordnet. Paul Maar zeigt zudem, dass fantastische Kinderliteratur auch gesellschaftliche Zwänge kritisch hinterfragen kann. Dabei greift Paul Maar Komik und Sprache als erzählerische Mittel auf, denn das Sams verdreht in Dialogen immer wieder Wörter und Sätze, versteht manches wortwörtlich und führt so die Menschen vor, ohne bösartig zu sein. 1980 folgte aufgrund der positiven Rezeption und der zahlreichen Aufforderungen der kindlichen Leser:innen, weitere Sams-Bücher zu schreiben, der zweite Band, Am Samstag kam das Sams zurück, 1992 erschien Neue Punkte für das Sams und 2020 Das Sams und der blaue Drache, der sich an dem ersten Band orientiert und Herrn Taschenbier und das Sams in dem kleinen Zimmer im Hause von Frau Rotkohl zeigt. Dank einer Wunschmaschine können sich beide Wünsche erfüllen. Erneut zeigt Paul Maar in diesem Band, was die Bände so besonders macht: Es wird gereimt, mit Sprache gespielt und das Sams stellt das Leben auf dem Kopf. Er nimmt in gewohnter Weise die Regeln des zwischenmenschlichen Miteinanders auf und dichtet daraus eigene ‚Samsregeln‘:
Steht man vor dem Tisch zu zweien,
muss man gar nicht heftig schreien,
weil es auch viel leiser geht,
wenn man dicht zusammensteht.
(Maar 2020, S. 15)
1984 erscheint mit Lippels Traum, in dem erneut Maars Liebe zur Literatur spürbar ist und er die Leser:innen erneut in neue Welten entführt. Im Mittelpunkt steht der Junge Lippel, dessen Eltern zu einem Kongress reisen müssen. Als ihm die kinderunfreundliche Frau, die in der Zeit auf ihn aufpassen soll, seine Lektüre, das Sindbad-Buch, wegnimmt, träumt er sich jede Nacht eine Fortsetzung der Geschichte und entflieht so in die Märchenwelt von Tausendundeine Nacht. Die Begegnungen mit dem Fremden – in Lippels Welt kommen zwei türkische Kinder in seine Klasse – werden in Lippels Traum verwoben. Dort begegnet er den Kindern in der Rolle einer Prinzessin und eines Prinzen und erlebt mit ihnen ein Abenteuer. Auch andere Figuren aus seiner realen Alltagswelt tauchen langsam in der Traumwelt auf. Lippels Traum kann so als eine Schnittstelle zwischen den fantastischen und realistischen Geschichten des Autors betrachtet werden, denn Maar verknüpft beides, um Lippels Begegnung mit dem kulturell Anderen zu zeigen.
Zwischen 2005 und 2008 erscheint die dreibändige Reihe um Herrn Bello – Herr Bello und das blaue Wunder (2005), Neues von Herrn Bello (2006) und Wiedersehen mit Herrn Bello (2008) –, in der die Geschichte von Max und seinem Hund Bello erzählt wird. Bello trinkt zufällig von einem blauen Stift und aus dem Hund wird Herr Bello, ein menschliches Wesen. Dabei lässt Maar die Erlebnisse abwechselnd aus der Perspektive von Max und Bello erzählen.
2.5 Realistische Kinderliteratur
Eine Sonderstellung im Œuvre Maars nehmen die beiden Bücher Kartoffelkäferzeiten (1990/2003) sowie Andere Kinder wohnen auch bei ihren Eltern (1976/2002) ein, denn sie sind für ältere Leser:innen verfasst und stark autobiografisch geprägt. Es handelt sich um zwei Romane, die das Leben in Nachkriegsdeutschland schildern und zugleich vom Erwachsenenwerden erzählen. Lange ordnet sie zu den jugendliterarischen Adoleszenzromanen sowie zur realistischen, zeitgeschichtlichen Jugendliteratur (Lange 2012, S. 11). Im Kontext der zeitgeschichtlichen Kinder- und Jugendliteratur nehmen diese eine wichtige Rolle ein, denn es existieren nur wenige Texte, die das Nachkriegsleben in Westdeutschland schildern.
In Andere wohnen auch bei ihren Eltern erzählt Paul Maar von dem zehnjährigen Kilian, der bei seinen Großeltern auf dem Dorf aufgewachsen, dort zur Schule gegangen ist und viele Freund:innen hatte. Er muss aber wieder zu seinem Vater und dessen zweiter Frau in die Stadt ziehen. Er fühlt sich unverstanden, einsam und es kommt immer wieder zu Konflikten und Krisen, die erst langsam überwunden werden können. Im Nachwort hebt Maar hervor, dass er nicht identisch mit Kilian sei, aber viele seiner persönlichen Erfahrungen in den Text eingeflossen sind (vgl. Maar 2002, S. 141).
Im Mittelpunkt des Romans Kartoffelkäferzeiten, der in der Zeit zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Beginn der Wirtschaftswunderjahre spielt und in einem Ort in Mainfranken verortet ist, steht das Mädchen Johanna. Sie hat mit ihrer Mutter und ihrer Großmutter den Krieg überlebt, der Vater ist noch in Kriegsgefangenschaft und Paul Maar erzählt, wie die drei Frauen ums Überleben kämpfen. Paul Maar beschreibt hier eine Enge, die nicht nur topografisch ist, sondern sich auch im Denken und Handeln der Menschen zeigt. Johanna möchte ihr Dorf Hesterhausen verlassen, ahnt aber, dass es weder ihr aus der Gefangenschaft zurückgekehrter Vater noch ihre Großmutter erlaubt. Der zeitgeschichtliche Jugendroman zeichnet sich durch eine genaue Recherche aus, denn Maar hat die Zeitungen dieser Jahre ausgewertet und arbeitet Notizen sowie Ereignisse in den Text ein.
Die Erzählung Neben mir ist noch Platz (1993/ 2016) thematisiert die Freundschaft zwischen Steffi aus Deutschland und Aischa, die mit ihrer Familie aus einem Kriegsgebiet nach Deutschland fliehen musste. Hintergrund der Ausgabe von 1993 ist der libanesische Bürgerkrieg sowie die hohe Zahl libanesischer Geflüchteter in Deutschland. 2016 wurde der Roman aufgrund der aktuellen Situation überarbeitet und im Mittelpunkt steht jetzt eine syrische Familie. Das Ende der Geschichte wurde ebenfalls geändert. In beiden Fassungen wird zunächst die Geschichte des Mädchens Aischa erzählt, das in der Schule eine Außenseiterin ist. Sie freundet sich jedoch mit Steffi an, beide haben einen gemeinsamen Schulweg und verbringen viel Zeit miteinander. Aufgrund eines Missverständnisses kommt es jedoch zu einem Streit. In der ersten Fassung muss Aischa schließlich ihrer Freundin berichten, dass die Familie Deutschland verlässt. Sie fühlt sich nicht sicher, denn ihr Haus wurde mit Steinen beworfen. Sie kehren in den Libanon zurück und in einem Brief erfährt Steffi, dass es der Familie dort schlecht geht. In der Fassung von 2016 wird zwar auch das Haus der Familie mit Steinen beworfen und die Familie zieht um. Aber der Umzug wird mit einer Amtsentscheidung erläutert und die Familie wechselt ihren Wohnort innerhalb Deutschlands. Der Band schließt ebenfalls mit einem Brief, in dem Aischa optimistisch klingt und auf ein Wiedersehen mit Steffi hofft. Im Nachwort informiert Paul Maar selbst, dass er die Geschichte bearbeitet habe. Zunächst einmal gab es nach dem Erscheinen in den 1990er Jahren Kritik:
Kritiker warfen mir vor, der Text vermittle die Botschaft: „Man muss nur die Flüchtlingsunterkünfte anzünden, dann gehen die wieder in ihre Heimat zurück!“ Dieses Missverständnis hat mich schockiert (Maar 2016, S. 46).
Das Buch selbst lobte u. a. die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendliteratur als einen Aufruf zur Toleranz und Verständnis, den Paul Maar in der überarbeiteten Version erneuerte und aktualisierte. Das gelingt ihm einerseits durch den Titel Neben mir ist noch Platz, der am Ende des Buches noch einmal aufgenommen wird, aber auch die Erzählhaltung sowie die Darstellung der einzelnen Situation und Figuren, die Empathie wecken.
2.6 Theater
Paul Maar ist auch ein erfolgreicher Dramatiker, der mit seinen Stücken zu den meistgespielten Autor:innen zählt (vgl. Lange 2012, S. 19). Sein dramatisches Werk umfasst mehr als dreißig Theaterstücke und gilt als „qualitativ herausragend“ (Payrhuber 2016, S. 79). Damit bildet nach der Lyrik und Epik auch die Dramatik einen wichtigen Teil in seinem Schaffen und ähnlich wie in der Lyrik und Epik gehört Maar auch in der Dramatik zu den „kreativsten und innovativsten Autoren des zeitgenössischen Kindertheaters“ (ebd., S. 79). Auch seine Theaterstücke zeichnen sich durch Reime, Gedichte und Lieder aus. Seinen ersten Erfolg auf der Bühne hatte Paul Maar mit dem Theaterstück Kikerikiste (1969).
Payrhuber hält fest, dass in Maars dramatischen Schaffen die Neubearbeitungen klassischer Stoffe einen hohen Stellenwert haben (vgl. Payrhuber 2016, S. 95). 1999 wird Maars Theaterstück F.A.u.s.T. Furiose Abenteuer und sonderbare Träume in Fürth aufgeführt. Im Frühjahr 1998 kam vom Intendanten des Theaters der Stadt Fürth die Aufforderung, Maar solle gemeinsam mit dem Kindertheater „Pfütze“ ein Stück entwickeln, das „zumindest Assoziationen zu Goethe zulassen, im Idealfall das Faust-Thema variieren“ solle (Maar 2007, 125). Das Theaterstück beginnt mit der Kindheit Fausts, der als Bettlerjunge bei seiner Großmutter aufwächst. Die Großmutter ist eine Kräuterkundige und Hebamme, wird in der Stadt jedoch immer wieder als Hexe bezeichnet. Johann Faust, der sehr klug ist, sich aber immer wieder mit dem Sohn des Stadtvogts streitet, darf die Schule und später die Universität in Heidelberg besuchen. Paul Maar hat es geschafft, mit seinem Stück dem Faust-Stoff eine weitere Geschichte hinzuzufügen und zugleich mit Johann Faust den Leser:innen eine mögliche Identifikationsfigur anzubieten (vgl. auch Frederking 2005, Krommer 2005). Maar zeigt einen Faust aus armen Verhältnissen, der sich nach oben arbeitet und Neidern begegnet. Maar nutzte nicht nur Goethes Faust als Prätext, sondern auch die wissenschaftlichen Arbeiten zu der historischen Figur Faust. Die Begegnung mit Mephisto wird als eine Tramszene inszeniert, in der sich dann Faust u.a. auch an seinem Feind aus Kindertagen rächen kann. Immer wieder blitzt im Theaterstück Maars Humor durch wie etwa im Dialog zwischen Margarete/Gretchen und Faust:
Faust Wunderdoktor! Wahrscheinlich heißt es bald: „Der Faust hat seine Seele an den Teufel verkauft!“
Margarete Das werden die Leute noch in tausend Jahren sagen – und die Dichter schreiben.
Faust Meint Ihr?
Margarete Ist doch eine gute Geschichte. Und Ihr werdet wirklich berühmt.
(Maar 2005, S. 60)
Und auch Jugendsprache taucht in dem Stück auf, wenn er den Bettlerjungen Faust zu Beginn sagen lässt: „Haste mal nen Kreuzer?“ (Maar 2005, S. 9)
3 Rezeption
Paul Maars Werk wird, wie eingangs bereits erwähnt, mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet. Aber nicht nur die (erwachsenen) Literaturkritiker:innen schätzen sein Werk, auch die Kinder sind seit Jahrzehnten begeisterte Leser:innen, wovon tausende Briefe, die Paul Maar bisher erreicht haben, Zeugnis geben. Die Kinder bitten ihn, weitere Bücher zu schreiben, berichten über ihre Leseerfahrungen, und betrachtet man die Briefe der letzten drei Jahrzehnte, so ist die Begeisterung unabhängig von der digitalen Alltagswelt der Kinder gleichgeblieben.
Eine Ausstellung, die ihm Rahmen des 70. Geburtstages von der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur in Volkach gezeigt wurde, dokumentierte die Briefe, die Paul Maar zwischen 1990 und 2018 erreicht haben. Darin wurden die Bücher und Geschichten von Paul Maar als „lustig“, „toll“, „spannend“, „cool“, „abenteuerlich“, „aufregend“ und „zum kaputt lachen lustig“ bezeichnet. Paul Maars Bücher bringen ihre Leser:innen zum Träumen und sind häufig Anlass dafür, dem Autor auch von ganz persönlichen Sorgen, Träumen oder Wünschen zu berichten.
Daher verwundert es nicht, dass sein Werk schnell Eingang in die Schulen und den Deutschunterricht gefunden hat. Entstanden sind Maars Werke in einer Zeit, in der sich der Literaturunterricht und Literaturdidaktik wandelten und der handlungs- und produktionsorientierte Literaturunterricht entwickelt wurde, so dass zwischen dem Autor Paul Maar und bspw. den Didaktikern Gerhard Haas oder Günther Waldmann eine „fruchtbare Wechselbeziehung“ (Lange 2012, S. 33) entstehen konnte. Zu einzelnen Büchern liegen didaktische Handreichungen vor und Günther Lange bezeichnet „Paul Maars Kinder- und Jugendbücher im Unterricht […] als ein[en] große[n] Gewinn“ sowohl für Lernende als auch für Lehrende (Lange 2012, S. 35).
Literaturverzeichnis
Primärliteratur (chronologisch)
- Der tätowierte Hund. Mit Ill. v. Paul Maar. Reinbek: Rowohlt 82014. [EA 1968]
- Eine Woche voller Samstage. Mit Ill. v. Paul Maar. Hamburg: Oetinger 1973.
- Andere Kinder wohnen auch bei ihren Eltern. Hamburg: Oetinger 1976.
- Am Samstag kam das Sams zurück. Mit Ill. v. Paul Maar. Hamburg: Oetinger 1980.
- Die Eisenbahn-Oma. Mit Ill. v. Frantz Wittkamp. Hamburg: Oetinger 1981.
- Tier-ABC. Mit Ill. v. Paul Maar. Hamburg: Oetinger 1983.
- Lippels Traum. Mit Ill. v. Paul Maar. Hamburg: Oetinger 1984.
- Die vergessene Tür. Mit Ill. v. Frantz Wittkamp. Hamburg: Oetinger 1987.
- Kartoffelkäferzeiten. Hamburg: Oetinger 1990.
- Neben mir ist noch Platz. München: dtv 2016. [EA 1993]
- mit Christian Schidlowsky: F.A.U.S.T. Furiose Abenteuer und sonderbare Träume. Braunschweig: Schroedel 2005.
- Herr Bello und das blaue Wunder. Mit Ill. v. Ute Krause. Hamburg: Oetinger 2005.
- Neues von Herrn Bello. Mit Ill. v. Ute Krause. Hamburg: Oetinger 2006.
- JAguar und NEINguar. Gedichte von Paul Maar. Mit Ill. v. Ute Krause. Hamburg: Oetinger 2007.
- Wiedersehen mit Herrn Bello. Mit Ill. v. Ute Krause. Hamburg: Oetinger 2007.
- Vom Lesen und Schreiben. Reden und Aufsätze zur Kinderliteratur. Hamburg: Oetinger 2007.
- Der Wutkuchen. Mit Ill. v. Miriam Cordes. Hamburg Oetinger 2008.
- Das Schul-ABC. Mit Ill. v. Paul Maar. Hamburg: Oetinger 2013.
- Kakadu und Kukuda. Mit Gedichten, Geschichten und Spielen durchs ganze Jahr. Mit Ill. v. Nina Dulleck. Hamburg: Oetinger 2016.
- Wie alles kam. Roman meiner Kindheit. Frankfurt am Main: S. Fischer 2020.
- Das Sams und der blaue Drache. Mit Ill. v. Paul Maar. Hamburg: Oetinger 2020.
Forschungsliteratur
- Frederking, Volker: F.A.U.S.T. – ein Theaterstück (2005). In: Paul Maar/Christian Schidlowsky: F.A.U.S.T. Furiose Abenteuer und sonderbare Träume. Braunschweig: Schroedel 2005, S. 78-79.
- Grimm, Lea: Alles von Aal bis Buchstabe Z. Anwendungsbezogene Impulse zu Paul Maars Lyrik im Elementarbereich und in der Erwachsenenbildung. In: Andreas Wicke/Nikola Roßbach (Hrsg.): Paul Maar. Studien zum kinder- und jugendliterarischen Werk. Würzburg: Königshausen & Neumann 2017, S. 253-271.
- Hopp, Margarete: Paul Maar – der Autor und sein Werk. In: Petra Josting/Iris Kruse (Hrsg.): Paul Maar. München: kopaed 2016, S. 37-77.
- Jantzen, Christoph: Zehn kleine Bären, Lisa, Paul und Greta. Reisen in Bilderbüchern von Paul Maar. In: Petra Josting/Iris Kruse (Hrsg.): Paul Maar. München: kopaed 2016, S. 147-160.
- Krommer, Axel: Sprache im Wandel der Zeiten. In: Paul Maar/Christian Schidlowsky: F.A.U.S.T. Furiose Abenteuer und sonderbare Träume. Braunschweig: Schroedel 2005, S. 80-82.
- Lange, Günter: Paul Maar. In: Kurt Franz/Günter Lange/Franz-Josef Payrhuber (Hrsg.): Kinder- und Jugendliteratur. Ein Lexikon. Meitingen: Corian 2012, S. 1-58.
- Lange, Günter: Paul Maars Kinder- und Jugendbücher in der Grundschule und Sekundarstufe I. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren 2007.
- Payrhuber, Franz-Josef: Der Theaterautor Paul Maar. In: Petra Josting/Iris Kruse (Hrsg.): Paul Maar. München: kopaed 2016, S. 79-102.
- Schulz, Gudrun: Gedichte im Schaffen von Paul Maar. Jaguar, Neinguar und vieles mehr. In: Petra Josting/Iris Kruse: Paul Maar. München: kopaed 2016, S. 103-119.
- Stierstorfer, Michael: Metamorphosen als Vehikel zum (klein-)bürgerlichen Familienglück? Zur audiovisuellen Umsetzung von Verwandlungen in den Literaturverfilmungen Das Sams im Glück, Lippels Traum und Herr Bello. In: Gabriele von Glasenapp/Claudia Maria Pecher/Martin Anker (Hrsg.): Vom Sprachmeertauchen und Wunschpunkterfinden. Beiträge zu kinderliterarischen Erzählwelten von Josef Guggenmos und Paul Maar. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren 2021, Ergänzungsbeitrag, online auf akademie-kjl.de veröffentlicht.
Internetquellen
- Meyerdierks, Imke/Wicke, Andreas: Paul Maar. In: kinderundjugendmedien.de, 13.10.2015 [letzter Aufruf: 25.10.2020].
Handreichungen/Unterrichtsmaterialien
- Pecher, Claudia M./Franz, Kurt: Eine Woche voller Samstage. Unterrichtsmaterial. In: oetinger.de, 2011 [letzter Aufruf: 25.10.2020].
- Bade, Eva: Das Sams darf sich was wünschen. Unterrichtsmaterial. In: dtv.de, 2017 [letzter Aufruf: 25.10.2020].
- Dantz, Margret: Neben mir ist noch Platz. Unterrichtsmaterial. In: dtv.de, 2016 [letzter Aufruf: 25.10.2020].