Antonia Michaelis

geboren am 27.04.1979 in Kiel
Schriftstellerin im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur

Jana Mikota
veröffentlicht am 15.08.2022

 

1 Biogramm

Antonia Michaelis wurde am 27. April 1979 in Kiel geboren. Zwei Jahre nach ihrer Geburt zog die Familie nach Augsburg, wo Antonia Michalis auch ihr Abitur machte. Anschließend ging sie für ein Jahr nach Südindien und unterrichtete u.a. Englisch, Kunst und Schauspiel an einer Schule in Madras. Zurück in Deutschland studierte sie Medizin an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität in Greifswald, unternahm weiterhin Reisen und arbeitete in unterschiedlichen Krankenhäusern. Zwischen 2018 und 2020 lebte sie mit ihrer Familie auf Madagaskar, wo sie u.a. am Bau einer Schule für Kinder beteiligt war. Heute lebt sie mit ihren vier Töchtern und ihrem Mann in Zemitz gegenüber der Insel Usedom. Sie veröffentlicht Romane für Kinder, Jugendliche und Erwachsene, schreibt auch Erstleseliteratur sowie Theaterstücke (vgl. hier Mikota 2017; Mikota/Kumschlies 2020).

 

2 Überblick über das Gesamtwerk

Antonia Michaelis hat bislang mehr als 60 Bücher für Kinder, Jugendliche und Erwachsene verfasst, hinzu kommen noch Theaterstücke und kürzere Geschichten. Ihre Romane lassen sich keinem spezifischen Genre zuordnen, vielmehr finden sich in ihrem Œuvre Kriminalromane für Kinder (Kreuzberg 007, 2009-2010, Die Amazonas-Detektive, 2020-2022), psychologische Kinder- und Jugendromane (Die Worte der weißen Königin, 2011, Der Märchenerzähler, 2011, Wind und der geheime Sommer, 2018), Road novel (Ella Fuchs und der hochgeheime Mondscheinzirkus, 2013, Tankstellenchips, 2018) oder politische Romane (Die Attentäter, 2016, Manchmal muss man Pferde stehlen, 2022). Interkulturelle Begegnungen prägen ihr Schreiben ebenso wie das Spiel mit kontrastierenden Lebenswelten. Wiederkehrende Themen sind Freundschaft sowie Gewalt inner- und außerhalb der Familie. Typische Figurenkonzeptionen wie bspw. fantasievolle und sprachgewaltige Kinder, liberale und bildungsinteressierte Eltern, unterschiedliche Familienentwürfe (u.a. offene Erziehungskonzepte) sowie Schichten/Milieus charakterisieren ihre Werke. Sie entzieht sich nicht nur gängigen Erzählmustern, sondern auch Adressatenzuschreibungen. Weder ihre Figurenzeichnung noch ihre sprachliche Gestaltung oder ihre Themen werden dem präsumtiven Adressatenkreis angepasst. Ein weiteres Merkmal ihres Schaffens ist das Spiel mit Intertextualität, das sich sowohl in ihren Kinder- als auch Jugendromanen findet. Neben Klassikern wie Astrid Lindgren, Michael Ende sind es Hinweise auf Stücke von Bertolt Brecht oder auf die Popkultur (bspw. James Bond, Lieder von Leonard Cohen).

2.1 Erstlesebücher

Antonia Michaelis debütiert mit dem Schreiben von Texten für Erstleserinnen und Erstleser. Sie muss einem starren Korsett folgen, denn die Erstleseliteratur ist für Kinder in den ersten Lesejahren konzipiert und muss bspw. auf komplexe Satzstrukturen, Komposita oder mehrere Handlungsstränge verzichten (vgl. Conrady 1998, aber auch Stenzel 2007 u. 2009). Michaelis nimmt Themen aus dem Alltag der Kinder, schreibt u.a. Nikolaus- oder Freundinnen-, aber auch Prinzessinnengeschichten.

2.2 Kinderromane

In ihren Kinderromanen erzählt sie einerseits von kindlichen Figuren, die in einer wohlbehüteten und fantasievollen Umgebung aufwachsen, andererseits entwirft sie kindliche Akteure, die in zerrütteten fantasielosen Verhältnissen leben. Die ungleichen Freundschaften zwischen den Figuren der unterschiedlichen Welten sind weder hierarchisch noch belehrend, sondern die kindlichen Figuren unterstützen sich gegenseitig. Insbesondere Figuren aus schwierigen Familienverhältnissen werden mit einer Fantasie ausgestattet, die für die Kinder eine Flucht in andere Welten bedeuten kann. Die Handlungsorte werden, abgesehen von wenigen Kinderromanen wie Kreuzberg 007 (2009-2010) oder Wind und der geheime Sommer (2018), in ländlichen Räumen angesiedelt. Es sind Landschaften, oft an der Ostsee, die den kindlichen Akteuren die Möglichkeiten bieten, sich frei zu entfalten und Kindheiten in erwachsenenfreien Räumen zu genießen wie etwa in Ella Fuchs und der hochgeheime Mondscheinzirkus (2013). Neu ist, dass sie ihre aktuellen Romane wie die Amazonas-Detektive (2020ff.) oder Der Koffer der tausend Zauber (2020) in Ländern des globalen Südens verortet.

Mit ihren Serien Kreuzberg 007 und Codewort 007Kreuzberg 007. Mission grünes Monster (2009), Kreuzberg 007. Geheimnisvolle Graffiti (2010), Codewort 007. Heimliches im Hinterhof (2011) und Codewort 007. Alarm im Advent (2012) – und Die Amazonas-DetektiveVerschwörung im Dschungel (2020), Tatort Naturreservat (2021), Spurensuche im Regenwald (2022) – schreibt Antonia Michaelis Romane für Kinder, die sich an tradierten Mustern des Kriminalromans orientieren. Während ihre frühen Kriminalromane einen Schauplatz auswählen, der seit Erich Kästner und Andreas Steinhöfel populär ist, nämlich die Großstadt Berlin, spielt die Handlung der Amazonas-Detektive in Manaus sowie dem Regenwald. Aber nicht nur der Standort wandelt sich, auch die Kriminalfälle. Sie erzählt von zwei Kindern, die sich immer wieder mit Verbrechen an der Natur auseinandersetzen, Täterinnen /Täter fassen, aber zugleich werden auch die Verstrickungen zwischen Politik und Wirtschaft deutlich. Mit diesen ökologischen Kriminalromanen weitet Michaelis den Blick in der ökologischen Kinderliteratur und setzt sich auch mit Globalisierung auseinander.

In den beiden Kinderromanen Ella Fuchs und der hochgeheime Mondscheinzirkus und Ella Fuchs und das Rätsel des fahrenden Inseltheaters (2014) führt Michaelis mit Ella ein kluges, fantasiereiches Mädchen ein, das auf der Ostsee-Insel Usedom ein Abenteuer erleben möchte. Ihre Eltern lassen sie bei einem befreundeten Ehepaar Buchenstock und fliegen nach Südafrika. Ella, die Geschichten über arme Waisenkinder schreibt und Menschen retten möchte, beschließt, sich um den Jungen Jonas, dessen Mutter krank und arbeitslos ist, und Herrn Minke, den Angestellten der Buchenstocks, zu kümmern und zumindest für Jonas Geld zu verdienen. Die Idee ist, dass sie als Zirkusleute in einem bunten Wohnwagen über die Insel reisen, Kunststücke aufführen und Geld sammeln. Auch Wind aus dem Roman Wind und der geheime Sommer ist ein Mädchen voller fantasievoller Einfälle. Im Mittelpunkt steht jedoch der Junge John-Marlon, der die Trennung seiner Eltern verarbeitet. Sowohl Mutter als auch Vater haben unterschiedliche Erwartungen an ihn und er kann nicht beide nicht erfüllen. Nach einem Treffen mit seinem Vater streift er durch Berlins Straßen und entdeckt hinter einem Bretterzaun einen verwunschenen Garten. Hier begegnet er dem Mädchen Wind, weiteren Kindern und sie erleben Abenteuer, in denen sie ihre Sorgen und ihren Alltag vergessen. Weder John-Marlon noch die anderen Kinder wissen etwas über Wind und im Laufe der Geschichte versucht John-Marlon das Geheimnis zu lösen. Michaelis spielt in diesem Roman mit Sprache, Motiven wie dem ‚fremden Kind‘ und nutzt das Spiel zur Stärkung der kindlichen Akteure.

Der Roman Das Blaubeerhaus (2015) nimmt eine Sonderstellung in ihrem Œuvre ein, denn sie setzt sich mit der deutschen Geschichte auseinander. Im Mittelpunkt steht das sog. ‚Blaubeerhaus‘, das sich mitten in einem Wald befindet Das nächste Dorf ist etwa zwei Tage entfernt. Die frühere Besitzerin Lene, die im Dorf als etwas schrullig galt, ist verstorben und hat das Haus an die Kinder einer entfernten Verwandten vererbt. Diese sind mittlerweile erwachsen, verheiratet und haben Kinder. Die Familien haben sich auseinandergelebt, und die Erwachsenen möchten das Erbe nutzen, um sich wieder besser kennenzulernen. Im Mittelpunkt stehen Leo, 10 Jahre alt, sein Bruder Luke, 15 Jahre alt, sein jüngerer Bruder Mattis, 1 Jahr alt, und seine Eltern, die sie „Der Riese“ und Betti nennen. Bettis Bruder Ben, der ebenfalls verheiratet ist und drei Töchter hat, ist das Gegenteil zu seiner Schwester. Seine Tochter Imke, ebenfalls 10 Jahre alt, lehnt den Großfamilienurlaub ab. Mit Tante Fee wird noch die alleinstehende Schwester von Ben und Betti eingeführt, die meditiert und an die Kraft des Mondes glaubt. Das Blaubeerhaus hat Geheimnisse und die Kinder erforschen den Wald sowie den Dachboden. Dabei finden sie das alte Tagebuch der verstorbenen Lene und stoßen auf Geheimnisse, die mit dem Zweiten Weltkrieg und der Zeit des Nationalsozialismus zu tun haben. Der Umgang mit der deutschen Geschichte gelingt Michaelis mittels des Tagebuches und Lenes Beschreibungen, die weder konstruiert noch pädagogisch-belehrend wirken. Lene tritt mit ihren Tagebuchseiten in eine intergenerationelle Kommunikation mit den Kindern, die sich den historischen Kontext erst langsam erschließen.

Das Thema Flucht und Integration spielt in ihrem Roman Manchmal muss man Pferde stehlen (2022), der von der Begegnung zwischen Anna und Tariq erzählt, eine besondere Role. Anna ist, nachdem die Mutter die Familie verlassen hat, stumm, redet nur mit ihrem Vater, ansonsten schweigt sie. Tariq ist ein minderjähriger Geflüchteter aus Afghanistan. Neu in der Klasse findet er kaum Anschluss, die anderen Schülerinnen und Schüler begegnen ihm mit Vorurteilen. Anna und Tariq treffen sich zufällig an einer Pferdeweide, lernen sich besser kennen und freunden sich an. Anna versucht dem Jungen zu helfen und erlangt nach und nach ihre Sprache zurück.

2.3 Jugendromane

Ihre Jugendromane zeichnen sich durch eine Vielfalt sowohl hinsichtlich der Themen als auch Figurenkonstellationen, sprachlicher und narratologischer Gestaltung aus. Auch wird in den Erzählungen auf Intertextualität, unzuverlässiges Erzählen und Tabubrüche zurückgegriffen.

Der Märchenerzähler (2011) gehört zu den Romanen von Antonia Michaelis, die kontrovers diskutiert wurden. Im Mittelpunkt der Geschichte stehen Anna und Abel Tannatek, der Außenseiter der Schule, sowie Abels Schwester Micha. Anna und Abel besuchen die Oberstufe und stehen kurz vor dem Abitur. Während jedoch Anna aus wohlgeordneten Familienverhältnissen kommt, ihr Vater ist Arzt, ihre Mutter Dozentin an der Universität, lebt Abel mit seiner Schwester Micha in einem „sozialen Brennpunkt“ Greifswalds, beide haben unterschiedliche Väter, und ihre Mutter ist seit Wochen verschwunden. Um seine Schwester und sich zu ernähren, verkauft er Drogen und geht auf den Strich. Anna beobachtet ihn und seine Schwester, die gemeinsam in die Mensa gehen, und lauscht fasziniert, aber wiederum heimlich, dem Märchen, das er seiner Schwester erzählt. Sie wird von den Bildern und seiner Stimme mitgerissen, kann sich ihm nicht verwehren und sucht seine Freundschaft. In der Tat ist es eine schwierige Freundschaft, denn immer wieder verstößt Abel Anna, die ihm dennoch nachläuft. Doch auch Abel öffnet sich ihr immer mehr und Anna muss erkennen, dass das von ihm erzählte Märchen wesentlich mehr mit der realen Gegenwart zu tun hat als gedacht. In der Gegenwart wird zeitgleich erzählt, wie Abel und seine Schwester immer wieder von Vertretern vom Sozialamt oder von der Schule besucht werden und ihre Anwesenheit als Bedrohung erleben. Die Geschichte selbst endet offen, Abel begeht Selbstmord, Annas Familie gibt Micha ein neues Zuhause. Der Märchenerzähler ist ein sozialkritischer Jugendroman, den die Literaturkritikerinnen und -kritiker insbesondere aufgrund der „oberflächlich[en]“ Liebesgeschichte und der „klischeehaft gezeichneten Figuren Abel und Anna“ (Kumschlies o. J., o. S.) bemängeln. Aber: Annas Naivität lässt sich mit dem Aufwachsen in ihrer Familie erklären, denn das Mädchen ist wohlbehütet in einer Kleinfamilie aufgewachsen und kennt nur ihre eigene Welt, die sie als „Seifenblase“ (Michaelis 2011, S. 27) bezeichnet. Aus dieser Seifenblase versucht sie ähnlich wie andere weibliche Figuren in Michaelis’ Werk Abel zu helfen. Diese Hilfe geht sogar so weit, dass sie ihm die Vergewaltigung verzeiht, diese nicht aufarbeitet und dadurch eine schwierige Botschaft transportiert. Thematisch setzt sich der realistische Roman u.a. mit Vernachlässigung und sozialer Ausgrenzung auseinander. In der Beziehung zu seiner Schwester wird Abel als ein verantwortungsbewusster Mensch gezeigt, der sich um seine Schwester kümmert und sie nicht in eine Pflegefamilie geben möchte. Hier setzt er alles daran, seine Kleinfamilie zu schützen. Damit wird Abel nicht zu einer positiven Figur, sondern zeichnet sich durch Widersprüche aus. Freudenberger hält in diesem Kontext fest, dass „Abels Agieren […] mit Hilfe von Konzepten von (Verletzungs-)Macht und Verletzungsoffenheit oder Ohnmacht nachvollzogen werden“ kann (Freudenberg 2014, S. 20). Abel wird somit im Laufe der Handlung zu einem Täter und wiederholt das, was ihm auf vielfache Weise angetan wurde. Die Vergewaltigungsszene kann so gedeutet werden, dass Abel Opfer seiner Biografie wurde und Liebe mit Gewalt gleichsetzt. Aber nicht nur das: Ricarda Freudenberg sieht darin einen Bruch, denn die Leserinnen und Leser distanzieren sich von Anna und Abel. Vor allem Anna, die sie bislang durch die Erzählperspektive kennengelernt haben, wird den Leserinnen und Lesern fremd. Freudenberg sieht darin die Funktion, dass der Roman „auf diese Weise davor [warnt], seinen Figuren zu sehr zu trauen“ (Freudenberg 2014, S. 23). Dieses Spiel mit den Figuren, einer Distanz oder Identifikation sowie das Spiel mit der Unzuverlässigkeit der Figuren setzt Michaelis in ihren weiteren Jugendromanen fort. 2022 erscheint die Fortsetzung mit dem Titel Im Schatten des Märchenerzählers, die Jahre später spielt und von Anna und ihrem Sohn Elias erzählt.

Der Roman Die Worte der weißen Königin (2011), den Freudenberg als ein Changieren zwischen „modernem Märchen und sozialkritischem Jugendroman“ (Freudenberger 2014, S. 14) einordnet, erzählt einerseits von der Macht der Literatur, andererseits aber auch von einem brutalen Vater und dem Aufwachsen in Ostdeutschland. Die Gewalt des Vaters erscheint willkürlich. Die Geschichte setzt ein, als Lion von seinem Vater im Keller des alten Hauses an der Ostseeküste eingesperrt wird. Rückblickend wird die Geschichte aus der Sicht Lions erzählt: Die Mutter verließ die Familie, um ihr Glück im Westen zu suchen. Weder Vater noch Sohn haben Kontakt zu ihr. Der Vater arbeitet zunächst als Hilfsarbeiter auf einer Schiffswerft, kümmert sich liebevoll um seinen Sohn, und gemeinsam entdecken sie die Natur. Er geht mit seinem Vater auf die Jagd und erkennt er dort seine Liebe zu den Seeadlern, die er fortan beschützen möchte. Als er seinen Vater in das nahe gelegene Dorf begleitet, begegnet er in der Kirche einer alten Frau, die Kindern vorliest. Er nennt sie die „weiße Königin“. Lion wird zum ersten Mal mit der Macht des Wortes und der Fantasie konfrontiert, sehnt sich nach den Vorlesestunden und sucht nach Worten. Der Vater beobachtet die Entwicklung mit Argwohn und scheint Angst zu haben, seinen Sohn wie schon seine Frau ebenfalls zu verlieren. Doch zunächst verliert er seine Arbeit und beginnt zu trinken. Er verwandelt sich nach und nach in den „schwarzen König“, der Lion misshandelt. Lion vernachlässigt die Schule, um nicht seine Verletzungen zu zeigen. Der Vater wird immer brutaler, die Schläge nehmen zu, und eines Tages erscheint ihm das Mädchen Olin, das sich als seine Schwester vorstellt. Sie ist älter als Lion und bereits mit drei Jahren davongelaufen. Sie ermuntert Lion sich zu wehren, doch Lion erduldet die Misshandlungen, bis der Vater zu weit geht und der Sohn in den Wald läuft.

Im Mittelpunkt des Romans Nashville oder Das Wolfsspiel (2013) steht die 18-jährige Svenja, die ihr Medizinstudium in Tübingen fortsetzen möchte. Sie kommt aus Leipzig, ihre Eltern haben sich mit ihrem Umzug getrennt, und alle drei führen ihre eigenen Leben. Als Svenja ihre erste eigene Wohnung betritt, findet sie im Küchenschrank einen Jungen, der ihr, auf dem Kopf stehend, entgegenblickt. Der Junge schweigt, ist scheinbar obdachlos und Svenja gibt ihm den Namen Nashville. Sie erfährt schließlich, dass Nashvilles Mutter, eine Obdachlose, ermordet wurde. Schließlich macht sie sich mit einem Kommilitonen auf die Suche nach dem Mörder. Erzählt wird aus Svenjas Perspektive. Svenja wirkt naiv, hat keine wirklichen Ziele und möchte später als Ärztin in einem afrikanischen Land arbeiten. Ihr Verhalten wirkt sprunghaft, unlogisch und nicht immer nachvollziehbar. Aufgrund ihres Verhaltens macht daher die interne Fokalisierung nicht nur einen naiven, sondern auch unzuverlässigen Eindruck. Svenja ist zudem eine kritische Beobachterin ihrer Umwelt: Sie kritisiert die Gesellschaft, die immer wieder auf bestimmten Konsumgütern beharrt. Sie selbst besitzt ein Handy, aber weder einen iPod noch Markenklamotten. Damit nimmt nicht nur die Figur eine Sonderstellung innerhalb der Jugendliteratur ein, sondern auch der explizite Verzicht auf bestimmte Konsumgüter. In aktuellen Jugendromanen, noch expliziter in Jugend-TV-Serien, finden sich immer häufiger solche Verweise. Auch die anderen Figuren folgen diesem Muster, denn auch Friedel, der Kommilitone, der Svenja bei ihren Nachforschungen unterstützt, studiert nur wegen der Familientradition Medizin, streift jedoch lieber durch die Stadt und hängt seinen Gedanken nach. Insgesamt entwirft Michaelis junge Erwachsene, die ihren Platz suchen und verloren in der Gesellschaft wirken.

Antonia Michaelis hat sich in ihrem Roman Die Attentäter (2016) der Frage gestellt, wie Jugendliche zu Attentätern werden. Anlass des Schreibens waren die Anschläge vom 13. November 2015. Im Mittelpunkt stehen drei Freunde, die sich seit ihrem vierten Lebensjahr kennen. Aufgewachsen in einem Berliner Mehrfamilienhaus, erfahren sie dennoch unterschiedliche Kindheiten. Während Alain und Margarete in einem liebevollen Zuhause älter werden, liberale Eltern haben, muss Cliff nicht nur die Trennung seiner Eltern sowie die Abwesenheit seiner Mutter verarbeiten, sondern auch die Alkoholabhängigkeit seines Vaters erleben. Diese geht einher mit Gewalt, Arbeitslosigkeit, Verwahrlosung und Vernachlässigung. Cliff ist ein talentierter Zeichner, besitzt ein fotografisches Gedächtnis und wirkt in seiner Welt verloren. Auch Alain liebt die Kunst, und gemeinsam malen und streifen sie durch Berlin. Margarete, die Dritte im Bunde, ist bodenständig. Der Roman strukturiert sich um die drei verschiedenen Jugendlichen. Abwechselnd wird aus ihrer Perspektive erzählt. Erinnerungen verschwimmen mit dem Jetzt, und nach und nach lernt man einen verunsicherten Cliff kennen, der tatsächlich an das Kalifat glaubt (Mikota 2018, o. S.). Seine Unsicherheit resultiert u.a. auch aus seiner Liebe zu Alain, die er nicht zugeben möchte. Beide Jungen fühlen sich zueinander hingezogen. Doch während Alain seine Homosexualität offen lebt, schämt sich Cliff. Antonia Michaelis arbeitet nicht mit Klischees, sondern entwirft mit Cliff einen Jugendlichen, der in der postmodernen Gesellschaft verloren ist (vgl. auch Mikota 2018, o. S.) Anders als Alain oder Margarete stehen ihm nicht alle Möglichkeiten zu. Sein Vater, ein alkoholkranker Mann, und seine Mutter, eine Türkin, die eine Uni-Karriere macht und ihren Sohn vernachlässigt, geben ihm keine Stabilität. Stabilität bedeutet für Cliff Regeln, an die er sich halten soll und die ihm Sicherheit geben. Erst im Islam lernt er diese Regeln und findet ein Zuhause. Mit seinem konvertierten Blick erleben die Leserinnen und Leser Berlin: Er beschreibt die Party-Abende in dem berühmten Techno-Club Berghain, ist von den sexuellen Eskapaden angewidert und angezogen zugleich. Es ist sein Blick auf die westliche Gesellschaft, in der er fehlende Werte bemängelt. Auch Alain, der Cliff immer folgt, beschreibt diese Szenen. Aber er wählt andere Worte, denn er liebt die Welt.

„Für Assmann“, mit dieser Widmung setzt der Roman grenzlandtage oder Das Glück der Wanderfalter (2016) ein, den Antonia Michaelis mit dem Autor Peer Martin verfasst hat. In dem Roman setzen sich Michaelis und Martin mit dem Thema Flucht auseinander. Im Mittelpunkt steht Jule, 17 Jahre alt, Deutsche und Abiturientin. Sie kommt aus einem liberalen Elternhaus und möchte zwei Wochen in Griechenland verbringen, um sich für den Abi-Stress zu wappnen. Sie wirkt naiv, fast kindlich und voller Vorfreude auf ein paar Tage am Mittelmeer. Doch bereits bei ihrer Ankunft bemerkt sie Veränderungen, fühlt sich beobachtet und lernt schließlich einen jungen Mann kennen, der voller Geheimnisse ist. Sie nimmt Gerüchte von Geflüchteten auf griechischen Inseln wahr, erkennt aber nicht die Zusammenhänge. Erst nach und nach erschließt sich ihr die ganze Wahrheit und sie will dem Jungen, der Assmann heißt, helfen. Parallel und in kürzeren Abschnitten lernen die Leserinnen und Leser auch Assmanns Perspektive kennen.

Von Ankunft in einem fremden Land und einer drohenden Abschiebung erzählt Michaelis in ihrem Roman Tankstellenchips. Ein Heldenepos (2018). Ich-Erzähler der Road novel ist der 18-jährige Shayan, der aus dem Iran nach Deutschland geflohen ist. Er begegnet dem Jungen Davy, der aus dem Kinderheim geflohen ist, und wegen eines Einbruchs, den beide Jungen beobachtet haben, müssen sie fliehen. Ihre Reise führt sie durch Deutschland, auf der sie nicht nur die Loreley besuchen, sondern auch die deutsche Lebensweise karikieren – bspw. die Mülltrennung.

2022 erscheint der Roman Weil wir träumten, der von zwei jungen Frauen erzählt, die sich auf Madagaskar begegnen. Emma, die seit ihrer Kindheit herzkrank ist, verbringt ihren Urlaub dort, sieht die Strände und trifft auf die Madegassin Fy, die im selben Alter ist, bereits Mutter und im Hotel den Lebensunterhalt verdient. Die unterschiedlichen Frauen unterhalten sich und Emma lernt die Welt der Madegassen fernab der Strände und geordneten Hotels kennen.

2.4 Romane für Erwachsene

In ihren Romanen für erwachsene Leserinnen und Leser schreibt Michaelis u.a. Kriminal- und Liebesromane mit ungewöhnlichen Geschichten und Figuren. In ihrem Roman Das Institut der letzten Wünsche (2015) lässt sie die Medizinstudentin Mathilda in einem Institut arbeiten, das Sterbenden die letzten Herzenswünsche erfüllt. In Friedhofskind (2014) lässt sie die Restauratorin Siri in ein Dorf voller Geheimnisse nach Ostdeutschland reisen. Sie soll dort die Fenster in einer Kirche herstellen. Die Themen ähneln jenen aus der Kinder- und Jugendliteratur und auch zwischen den einzelnen Figuren, der Figurenkonstellation, zeigen sich Parallelen. Einsamkeit, aber auch Geheimnisse und komplexe Familienstrukturen, die eingebunden in eine poetische Sprache werden, charakterisieren auch Michaelis’ Werk für erwachsene Leserinnen und Leser.

 

3 Rezeption

Michaelis‘ Romane sind bislang wenig von der Kinder- und Jugendliteraturforschung beachtet worden. In einschlägigen Lexika wie Kinder- und Jugendliteratur. Ein Lexikon existiert ein Beitrag zum Gesamtwerk, aber weder die Datenbank der Bibliothek für Jugendbuchforschung noch des österreichischen Instituts für Jugendliteratur listet eine umfangreiche Forschungsliteratur auf.

Bereits 2003 hieß es jedoch in der Literaturkritik, dass Antonia Michaelis die „Schreibe“ habe, „nach der sich Lektoren die Finger lecken: witzig, unverfälscht, spannend, intelligent“ (Hinze 2003, S. 5). Sie sagt in Interviews, dass sie bereits seit ihrem 5. Lebensjahr schreibt. Ihr Jugendroman Der Märchenerzähler wurde 2012 für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert und gehört damit zu ihren erfolgreichsten Romanen. Die Jury hebt insbesondere die sprachliche Qualität des Buches sowie die Erzählweise hervor. Christine Hagemann hat Unterrichtsmaterialien für den Märchenerzähler im Oetinger-Verlag herausgegeben. Hagemann erläutert, dass der Roman neben dem Fach Deutsch auch in Sozialwissenschaften oder Philosophie eingesetzt werden kann. Burkard plädiert in ihren Ausführungen zu Jenseits der Finsterbach-Brücke, mit der Lektüre Schülerinnen und Schüler „für eine intertextuelle Lektüre“ (Burkard 2016, S. 258) zu sensibilisieren. In Anlehnung an Kaspar H. Spinners Aspekte des literarischen Lernens sieht sie neben der intertextuellen Lektüre auch das Nachvollziehen „der Perspektiven literarischer Figuren“ (Burkard 2016, S. 258) als Möglichkeiten für den Unterricht.

Trotz der Vielzahl an unterschiedlichen Texten gehört Michaelis zu den bislang vernachlässigten Autorinnen der Kinder- und Jugendliteraturforschung. Auch in schulischen Kontexten fehlen Unterrichtsmaterialien – Ausnahme ist Der Märchenerzähler –, was möglicherweise an den ‚sperrigen‘ Themen und dem Umfang der Texte liegen mag. Dennoch lohnt auch mit Blick auf Intertextualität, Cross-Writing und Figurenge­staltung die Auseinandersetzung mit Michaelis’ Werk.

 

Literaturverzeichnis

Primärliteratur (chronologisch)

  • Jenseits der Finsterbach-Brücke. Mit Ill. von Almud Kunert. Hamburg: Oetinger 2008.
  • Kreuzberg 007 – Mission grünes Monster. Mit Ill. v. Annette Swoboda. Hamburg: Oetinger 2009.
  • Kreuzberg 007 – Geheimnisvolle Graffiti. Mit Ill. v. Annette Swoboda. Hamburg: Oetinger 2010.
  • Codewort 007 – Heimliches im Hinterhof. Mit Ill. v. Annette Swoboda. Hamburg: Oetinger 2011.
  • Der Märchenerzähler. Hamburg: Oetinger 2011.
  • Die Worte der weißen Königin. Hamburg: Oetinger 2011.
  • Codewort 007 – Alarm im Advent. Mit Ill. v. Annette Swoboda. Hamburg: Oetinger 2012.
  • Solange die Nachtigall singt. Hamburg: Oetinger 2012.
  • Nashville oder Das Wolfsspiel. Hamburg: Oetinger 2013.
  • Ella Fuchs und der hochgeheime Mondscheinzirkus. Mit Ill. v. Imke Sönnichsen. Hamburg: Oetinger 2013.
  • Ella Fuchs und das Rätsel des fahrenden Inseltheaters. Mit Ill. v. Imke Sönnichsen. Hamburg: Oetinger 2014.
  • Niemand liebt November. Hamburg: Oetinger 2014.
  • Das Blaubeerhaus. Mit Ill. v. Claudia Carls. Hamburg: Oetinger 2015.
  • Die Attentäter. Hamburg: Oetinger 2016.
  • Mit Peer Martin: grenzlandtage. Hamburg: Oetinger 2016.
  • Ein Heldenepos. Hamburg: Oetinger 2018.
  • Wind und der geheime Garten. Mit Ill. von Claudia Carls. Hamburg: Oetinger 2018.
  • Der Koffer der tausend Zauber. Mit Ill. von Sanna Wandtke. Hamburg: Oetinger 2020.
  • Die Amazonas-Detektive. Verschwörung im Dschungel. Mit. Ill. von Sonja Kurzbach. Bindlach: Loewe 2020.
  • Die Amazonas-Detektive. Tatort Naturreservat. Mit. Ill. von Sonja Kurzbach. Bindlach: Loewe 2021.
  • Manchmal muss man Pferde stehlen. Mit Ill. von Simona M. Ceccarelli. Hamburg: Oetinger 2022.
  • Weil wir träumten. Stuttgart: Thienemann 2022.
  • Im Schatten des Märchenerzählers. Hamburg: Oetinger 2022.
  • Die Amazonas-Detektive. Spurensuche im Regenwald. Mit. Ill. von Sonja Kurzbach. Bindlach: Loewe 2022.

Sekundärliteratur und andere Quellen

  • Burkard, Mirjam: Antonia Michaelis: Jenseits der Finsterbach-Brücke (2009). In: Erzählende Kinder- und Jugendliteratur im Deutschunterricht. Textvorschläge – Didaktik – Methodik. Hrsg. v. Kaspar H. Spinner u. Jan Standke. Paderborn: Schöningh 2016, S. 256–259.
  • Conrady, Peter: Leseanfänger sind keine Anfänger im Lesen. Anmerkungen zum Kinderbuch als Erstlesebuch. In: Kinderliteratur im Unterricht. Hrsg. v. Karin Richter u. Bettina Hurrelmann.: Weinheim: Juventa 1998, S. 175–
  • Freudenberg, Ricarda: „Und es war alles, alles gut?“ Gewalt in den Jugendromanen von Antonia Michaelis. In: Kjl&m 66 (2014), H. 4, S. 13–23.
  • Hinze, Adrienne: Von Indien nach Großbritannien: Antonia Michaelis und ihr Romandebüt. In: Bulletin Jugend + Literatur 34 (2003), H. 2, S. 5–6.
  • Kumschlies, Kirsten: Rezension zu „Der Märchenerzähler“. In: kinderundjugendmedien.de [letzter Zugriff: 22.08.2022].
  • Manz Katrin: „Der Märchenerzähler“. Problemorientierte Fantastik. In: Deutschunterricht 67 (2014), H. 4, S. 24–29.
  • Mikota, Jana: Antonia Michaelis. In: Kinder- und Jugendliteratur. Ein Lexikon. Hrsg. v. Kurt Franz u. Günter Lange. Meitingen: Corian 2017.
  • Mikota, Jana: Brückenbauer zwischen den Kulturen. Über den Einzug des Politischen in die aktuelle Kinder- und Jugendliteratur. In: In: literaturkritik.de, 2018 [letzter Zugriff: 22.08.2022].
  • Mikota, Jana/Kumschlies, Kirsten: Michaelis, Antonia. In: kinderundjugendmedien.de, Erstveröffentlichung 27.06.2019 [letzter Zugriff: 22.08.2022].
  • Schweikart, Ralf: Übergänge. Junge Erwachsene fühlen sich oft zu alt für Antonia Michaelis und zu jung für den neuen Walser; Verlage entdecken diese Lesegeneration gerade als potenzielle Zielgruppe (wieder). In: Börsenblatt 184 (2017), Spezial H. 6, S. 32–33.
  • Stenzel, Gudrun: Erstlesebücher. In: Kinder- und Jugendliteratur. Ein Lexikon. Hrsg. v. Kurt Franz u. Günter Lange. Meitingen: Corian 2009, S. 1–