Mirjam Pressler
geboren am 18. Juni 1940 in Darmstadt
gestorben am 16. Januar 2019 in Landshut
Schriftstellerin im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur und Übersetzerin im Bereich der Literatur für jüngere und ältere Leserinnen und Leser
Dr. Jana Mikota
veröffentlicht am 30.07.2022
1 Biogramm
Mirjam Pressler wurde am 18. Juni 1940 in Darmstadt geboren. Nach der Schulzeit in Frankfurt a. M. besuchte Mirjam Pressler sechs Semester lang die Akademie für Bildende Künste in München und studierte zudem Sprachen. Die Bedeutung des Zuganges zu visuellen Welten in Kunst und Natur sowie das Erkennen ihrer Sprachbegabung waren prägend für den Lebensweg von Mirjam Pressler. Eine wichtige Rolle spielte auch ihre – durch eine Lehrerin vermittelte – Erkenntnis ihres Jüdisch-Seins, das sie 1962 in einem Kibbuz in Israel führte. 1964 heiratete sie, die Töchter Ronit, Gila und Tall wurden geboren. Um sich und die Töchter ernähren zu können, arbeitete Mirjam Pressler in verschiedenen Berufen. Sicher hatte ihre Leidenschaft für das Lesen, die sie trotz des bildungsfernen Lebens in der Pflegefamilie und der beschränkten Atmosphäre im Heim erwarb, einen entscheidenden Einfluss darauf, dass Mirjam Pressler nach ihrem ‚privaten Erfinden‘ von Geschichten und der phantasievollen Entfaltung einer Gegenwelt zu ihrer Kindheit schließlich mit dem Schreiben begann. Mirjam Pressler schrieb und übersetzte bis zu ihrem Tod am 16. Januar 2019 in Landshut.
2 Überblick über das Gesamtwerk
Mirjam Pressler gehört zu den wichtigsten Autorinnen der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur. In ihrem umfangreichen Werk setzt sie sich mit beschädigten Kindheiten, jüdischem Leben und jüdischer Kultur sowie der Shoah auseinander. Wiederkehrende Motive sind das Aufwachsen in schwierigen familiären Situationen, Verlusterfahrungen sowie Ausgrenzung. Ihre Figuren zeichnet eine Ernsthaftigkeit aus und trotz der komplexen Familienverhältnisse gibt sie ihnen auch Stärke, um diese bewältigen zu können. Ihr Interesse gilt der Frage, „wie Identität unter widrigen Bedingungen entstehen und wachsen kann“ (Pressler 2001b, S. 25). In ihren Romanen konzentriert sie sich daher auf das Innenleben der kindlichen und jugendlichen Akteure. Hervorzuheben ist zudem die sprachliche Qualität, die sich sowohl in Werken für jüngere als auch ältere Leserinnen und Leser findet. Ihre historischen Romane zeichnen sich durch eine gründliche Recherche aus.
Sie übersetzte zudem mehr als dreihundert Werke für jüngere und ältere Leserinnen und Leser aus dem Niederländischen, Englischen und Hebräischen. Für ihr literarisches Schaffen erhielt sie zahlreiche Preise.
2.1 Wichtige Werke
2.1.1 Frühe Jugendromane
Bereits in ihren ersten Jugendromanen sind Themen und Strukturen erkennbar, die das Werk der Schriftstellerin prägen: Das Aufwachsen junger Menschen in schwierigen familiären und sozialen Verhältnissen sowie die Wahl von Mitteln modernen Erzählens wie erlebte Rede oder innerer Monolog. 1980 erscheint mit Bitterschokolade ihr erster Roman, der u.a. den Oldenburger Jugendliteraturpreis erhalten hat. Vier weitere Romane folgen in kurzer Zeit (Nun red‘ doch endlich, 1981, Stolperschritte, 1981, Kratzer im Lack, 1981, Zeit am Stiel, 1982): Alle fünf Bücher haben einen Gegenwartsbezug, sind realistische Romane und erzählen von Krisen junger Menschen in der Phase der Adoleszenz. Es geht um Konflikte in familiären Kontexten, aber auch um Mobbing und Schwierigkeiten in der Schule. Pressler gelingt es die jugendlichen Innenwelten zu entfalten und von ihren Sorgen zu erzählen.
Der Roman Novemberkatzen (1982) markiert einen Wendepunkt im Schreiben der Autorin und gehört mit Wenn das Glück kommt, muss man ihm einen Stuhl hinstellen (1994) zu jenen Texten, die eine autobiografische Prägung haben. Bereits in ihren Jugendromanen zeichnet Mirjam Pressler das Bild brüchiger Kindheiten und des Aufwachsens unter widrigen Umständen nach. Auch in ihren Romanen Novemberkatzen und Wenn das Glück kommt, muss man ihm einen Stuhl hinstellen wendet sie sich diesen Themen zu. Beide Bücher sind in der Nachkriegszeit verortet und erzählen von Armut, Ausgrenzung und Gewalt. In Novemberkatzen steht Ilse im Mittelpunkt, die mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern in einer Wohnung der Gemeinde lebt. Der Vater hat die Familie verlassen, das Geld ist knapp und Ilse muss Hohn, Gewalt und Ausgrenzung inner- und außerhalb der Familie erleben. In Wenn das Glück kommt, muss man ihm einen Stuhl hinstellen tritt die 12-jährige Halinka als Ich-Erzählerin auf. Sie lebt im Nachkriegsdeutschland in einem Heim. In Gedankensplittern erfährt man nur wenig über ihre Vergangenheit, ihren Vater kennt sie, das Verhältnis zu ihrer Mutter ist gestört und Halinka musste aufgrund von Vernachlässigung ins Heim. Aber auch im Heim erfährt sie wenig Geborgenheit oder emotionale Nähe. Sie flieht in ihre Gedanken und muss erst langsam lernen, dass die Selbstisolation keine Lösung bedeutet. Im Laufe der Handlung findet sie nicht nur eine Freundin, sondern kann auch ihre Tante Lou besuchen.
2.1.2 Anne Frank
Mehr als drei Jahrzehnte hat sich Mirjam Pressler mit der Familie Frank beschäftigt. Sie begann in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre mit der Übersetzung des Tagebuchs der Anne Frank und übertrug 2018 das Bilderbuch Anne Frank und der Baum von Jeff Gottesfeld, illustriert von Peter McCarthy, aus dem Englischen ins Deutsche. Bis heute gehört das Tagebuch der Anne Frank zu den ersten und berühmtesten Zeugnissen über die Verfolgung der europäischen Juden. Seine weltweite Bekanntheit basiert auch auf der Fülle medialer Umsetzungen.
1988 kommt die Übersetzung von Mirjam Pressler auf den Markt, 1992 wird schließlich auf der Grundlage der Arbeit von Mirjam Pressler die einzige von dem Anne-Frank-Fonds autorisierte Fassung des Tagebuchs publiziert, die dann in andere Sprachen übersetzt wird.
1992 erscheint Ich sehne mich so. Die Lebensgeschichte der Anne Frank für jugendliche Leserinnen und Leser. Pressler erzählt nicht chronologisch die Biografie des jungen Mädchens nach, sondern kommentiert ihr Leben, ihre Aussagen im Tagebuch sowie ihr Verhalten und setzt sich so aktiv mit dem Schicksal auseinander. Der Mensch Anne Frank steht dabei immer im Mittelpunkt und Pressler schafft es, dass die Leserinnen und Leser Anne Frank nicht ausschließlich als Opfer, sondern auch als einen aktiven Menschen mit Wünschen und Träumen wahrnehmen. Mit ihrer Biografie verschleiert Pressler weder die Schwierigkeit im Hinterhaus noch die Phase der Adoleszenz, in der sich Anne Frank befindet.
Den Komplex um die Familie Frank schließt die Autorin mit der umfangreichen Publikation ‚Grüße und Küsse an alle‘. Die Geschichte der Familie von Anne Frank (2009), in der sie bislang unbekannte Dokumente und Bildmaterial, die im Baseler Haus der Familie entdeckt wurden, auswertet.
Man kann nur vermuten, wie sehr die Arbeit an dem Tagebuch der Anne Frank Mirjam Pressler und ihr späteres Werk beeinflusst hat. Seit den 1980er Jahren übersetzt sie u.a. aus dem Niederländischen die Kinderbücher von Ida Vos, in denen u.a. über die Deportationen und den Überlebenskampf der Juden in den Niederlanden erzählt wird.
2.1.3 Zeitgeschichtliche Jugendromane
Ihre zeitgeschichtlichen Jugendromane erzählen von Antisemitismus, Verfolgung, Intoleranz und Gewalt, aber auch Menschlichkeit und Hilfsbereitschaft.
Der Roman Malka Mai (2001) schildert das Schicksal des jüdischen Mädchens Malka, das mit ihrer Mutter, einer Ärztin, und ihrer älteren Schwester 1943 überstürzt ihr Zuhause an der polnisch-ungarischen Grenze verlassen muss. Sie entkommen nur knapp den Deportationen der Deutschen, Malka erkrankt auf der Flucht, wird von der Mutter bei einer Bauernfamilie zurückgelassen und ab diesem Zeitpunkt muss sie sich allein behaupten. Pressler erzählt eindringlich vom Verlust der Kindheit, der Vereinsamung und Verrohung. Die Geschichte basiert auf einer wahren Begebenheit.
Auch ihr 2011 veröffentlichter Roman Ein Buch für Hanna setzt sich mit Deportation auseinander und erzählt die Geschichte der Leipziger Jüdin Hanna Stern, die ohne ihre Familie fliehen muss und über Dänemark ins damalige Palästina gelangen möchte. Der Roman basiert wie auch Malka Mai auf einem authentischen Schicksal. Mirjam Pressler traf Hanna B. in Israel regelmäßig. Doch immer wieder verschob sie Fragen nach Kindheit und Jugend, sodass Mirjam Pressler keine Biografie geschrieben hat. Der Roman nimmt belegte biografische Fakten auf, der historische Kontext ist detailliert recherchiert, aber vieles musste sich Mirjam Pressler ausdenken.
Immer wieder sucht sie das Gespräch mit Jugendlichen und setzt sich auch mit Erinnerung sowie dem Umgang mit Geschichte seit 1945 auseinander. Vor diesem Hintergrund lässt sich der Roman Zeit der schlafenden Hunde (2003) einordnen. Im Mittelpunkt der Geschichte steht das Mädchen Johanna, das auf einer Israelreise erfahren muss, dass das Modehaus, das seit Jahrzehnten im Besitz ihrer Familie ist, ursprünglich zwei jüdischen Geschäftsleuten gehörte und diese von Johannas Großvater keine Entschädigung bekommen haben. Johanna möchte das Verbrechen sühnen und setzt in der Familie einen komplizierten und schmerzvollen Prozess in Gang.
Der 2019 erschienene Roman Dunkles Gold erzählt auf zwei Ebenen die Geschichte des berühmten Erfurter Schatzes, der im Jahre 1998 gefunden wurde und schlaglichtartig ein dunkles Kapitel in der Erfurter Geschichte enthüllte: die Vernichtung der gesamten jüdischen Bevölkerung Erfurts in einem Pogrom im Jahre 1349. Im Mittelpunkt stehen zwei Mädchen: Laura, Tochter einer Kunsthistorikerin, und Rachel, die 1349 vor dem Pestpogrom aus Erfurt fliehen mussten. Damit verbindet Mirjam Pressler in einem Werk jüdische Kultur, Identität und Geschichte mit der Gegenwart und setzt sich mit dem Antisemitismus des 21. Jahrhundert auseinander.
2.1.3 Historische Jugendromane
Mirjam Pressler setzt sich in ihrem Werk jedoch nicht nur mit der Shoah auseinander, sondern blickt auch auf das jüdische Leben und jüdische Kultur vor der Katastrophe. 1999 erscheint der Roman Shylocks Tochter (Neuauflage 2008), der eine veränderte Adaption von Shakespeares Der Kaufmann von Venedig darstellt und Shylocks Tochter Jessica in den Mittelpunkt rückt. Zugleich eröffnet Pressler mit diesem Band eine kleine Reihe, in der sie Klassiker bzw. Themen/Stoffe der Weltliteratur für Jugendliche neu bearbeitet. Die 16-jährige Jessica lebt mit ihrem Vater, ihrer Ziehschwester Dalila und der Haushälterin Amelia im jüdischen Ghetto in Venedig des Jahres 1568. Jessica leidet unter den Einschränkungen, die ihr auferlegt werden: Keine Feste oder keine prächtige Kleidung. Sie sehnt sich nach Freiheit. Als sie bei einer Freundin den christlichen Adligen Lorenzo kennen lernt, verliebt sie sich. Ihr ist klar, dass ihr Vater einer solchen Verbindung niemals zustimmen würde, also plündert sie seine Ersparnisse, verlässt heimlich das Elternhaus und heiratet Lorenzo. Sie konvertiert zum Christentum. Shylock trifft der Verlust seiner Tochter hart und er sinnt auf Rache. Als er das Geld, das er dem Christen Antonio geliehen hat, nicht zurückbekommt, besteht Shylock auf seinen Anspruch, Antonio aus seiner Brust ein Pfund Fleisch herausschneiden zu dürfen. Doch er verliert seine Ansprüche vor dem christlichen Gericht und bleibt als gebrochener Mann zurück. Pressler nimmt den Kontrast zwischen der christlichen und jüdischen Welt auf, doch sie zeigt, dass auch die jüdische Welt differenzierter betrachtet werden muss, als es bei Shakespeare der Fall ist. Pressler lässt die Handlung im Ghetto spielen, das der jüdischen Bevölkerung einerseits Schutz, andererseits auch Enge bietet. Pressler hat einen Roman geschrieben, in dem sowohl Shylock als auch seine Tat stärker im Mittelpunkt stehen und nachvollziehbarer werden. Ihr Shylock ist auch ein Ergebnis des 20. Jahrhunderts und ihr Roman konzentriert sich stärker auf das jüdische Leben. Oder anders gesagt: Trotz der Veränderungen handelt es sich nicht um eine Vereinfachung des Shakespeareschen Dramas für ein jugendliches Publikum, sondern Pressler weitet die Konflikte aus und schafft so eine gelungene Adaption. Die Ängste der jüdischen Bevölkerung, die Verfolgungen und Schikanen durch Christen werden ebenfalls thematisiert.
2007 folgt mit Golem stiller Bruder ein Roman, der die Leserinnen und Leser in die Zeit vom 16. zum 17. Jahrhundert nach Prag führt. Mirjam Pressler nimmt das Motiv der Golem-Figur auf. Der 15-jährige Jankel kommt mit seiner jüngeren Schwester Rochele nach Prag, um bei seinem Großonkel Rabbi Löw um Unterkunft zu bitten. In ihrem früheren Zuhause können sie nicht mehr leben, da ihre Mutter verstorben, ihr Vater, der als Buchhändler über die Landstraßen wandert, verschwunden und ihre Tante schwer erkrankt ist. Während Rochele bei der Tochter des Rabbi eine Unterkunft und auch eine neue Familie findet, lebt Jankel im Hause seines Onkels und beginnt eine Ausbildung als Bäcker bei Mendel. Dort freundet er sich mit Schmulik an, beide durchforsten die Stadt Prag und müssen erleben, wie Pfarrer gegen die jüdische Bevölkerung hetzen und sich Neid und Hass breitmachen. Der Roman wird abwechselnd aus der Ich-Perspektive Jankels und der eines heterodiegetischen Erzählers geschildert, was zu einer besonderen literarischen Dichte führt und unterschiedliche Einblicke in das Leben gewährt.
2009 veröffentlicht sie Nathan und seine Kinder und setzt sich mit Lessings Drama Nathan der Weise (1779) auseinander, ohne einen Gegentext zu schreiben. Pressler erweitert somit das Figurenarsenal und lässt Christen, Juden und Muslime auftreten. Neben den bekannten Figuren Nathan, Al-Hafi, Saladin, Recha, Tempelherr, Daja, Sittah und dem Patriarch kommen bei Pressler noch Abu Hassan, ein Hauptmann Saladins, Geschem, ein Junge im Haus Nathans, Elijahu, ein Verwalter Nathans, und Zipora, die Köchin Nathans, hinzu. Jedes Kapitel ist einer anderen Figur gewidmet, die so unterschiedliche Gedanken und Sichtweisen den Leserinnen und Lesern präsentiert. Nathan selbst wird ausschließlich von den anderen Figuren charakterisiert. Die Figuren, die in beiden Stücken auftreten, sind von ihrer Figurenzeichnung ähnlich, werden jedoch in Presslers Roman lebendiger und mehrdimensionaler konstruiert. Der Grundgedanke und die Idee der Toleranz, die schließlich in der Ringparabel ihren Höhepunkt erreicht, bleiben erhalten und auch die Charakterisierungen der einzelnen Figuren erinnern an Nathan der Weise von Lessing. Nathan wird als ein großzügiger, weiser und wohlhabender Kaufmann entworfen.
Alle drei Romane interpretieren die literarischen Vorlagen neu und erweitern sie um die jüdische Perspektive.
2.2.4 Kinderromane
Mirjam Pressler hat nur wenige Romane für jüngere Leserinnen und Leser verfasst, von denen Nickel Vogelpfeifer (1986) und Wundertütentage (2005) aufgrund der sprachlichen Gestaltung und der Figurenzeichnung besonders herausragen. Beide Kinderromane erzählen von der Suche nach Anerkennung.
In Nickel Vogelpfeifer wird die Geschichte eines Kindes erzählt, das sich ein Fahrrad wünscht und dieses nicht bekommt. Aus Enttäuschung stiehlt er ein Fahrrad. Er muss es verstecken, kann es nur heimlich fahren und wird ständig von einem schlechten Gewissen begleitet. Der Diebstahl erfolgt weder bewusst noch böswillig, sondern vielmehr vom Wunsch getrieben, ein Fahrrad zu besitzen. Nickel Vogelpfeifer unterscheidet sich von anderen Romanen vor allem hinsichtlich der Familienkonstellation und der Figurendarstellung von anderen Romanen Mirjam Presslers. Zwar ist auch Nickel ein eher introvertiertes Kind, aber anders als bspw. Ilse aus Novemberkatzen hat er Freunde, die Familie ist nicht belastet, lediglich der Vater bekommt eine dominante Stellung. Er ist in sein neues Auto ‚verliebt‘ und nimmt Nickels Wunsch nicht wahr.
In Wundertütentagen steht der Junge Samuel im Vordergrund, der unter dem Umzug leidet. Der Abschied aus der vertrauten Umgebung, der Verlust der sozialen Beziehungen und die Angst vor der neuen Klasse bilden den Erzähl- und Handlungsrahmen. Erst im Laufe der Geschichte gewinnt er neuen Mut, Selbstvertrauen und findet auch Freunde. Insbesondere die veränderte Sicht auf seine Klassenkameradinnen und Klassenkameraden ist überraschend, denn Samuel wird in einen alltäglichen Kontext eingebettet. Samuel, der sich für Insekten interessiert, soll in einem Referat sein Hobby der Klasse vorstellen. Er überwindet seine Scheu, die Reaktionen seiner Mitschülerinnen und Mitschüler sind positiv und er erkennt, dass viele von ihnen spezifische Interessen haben. Er nimmt ihre Individualität wahr, was zu einer Öffnung gegenüber seinen Mitmenschen führt und ihm auch mehr Selbstbewusstsein gibt. Neben seinen persönlichen Problemen, sich in der neuen Umgebung zurechtzufinden, muss Samuel auch die Trennung der Eltern erleben. Die Mutter möchte, dass ihr Leben nicht nur auf den familiären Bereich beschränkt ist. Der Vater versteht diesen Wunsch nicht und muss sich diesen neuen Möglichkeiten öffnen.
Die Beziehung zur Natur und zu Tieren prägt das Schreiben Presslers. In ihrem Roman Ich bin’s, Kitty (2018) erzählt sie von der Katze Kitty. Diese wächst behütet auf, doch dann muss die Besitzerin ins Krankenhaus, anschließend in ein Pflegeheim und Kitty muss auf der Straße überleben. In die vermenschlichte Tierwelt bettet Pressler gesellschaftliche und soziale Probleme menschlicher Gemeinschaft.
2.2.5 Übersetzungen
Immer wieder betont Mirjam Pressler die Relevanz von Übersetzungen, denn diese weiten nicht nur den literarischen Horizont, sondern können auch Brücken bauen. Ein Blick auf die Übersetzungen zeigt, dass sie anspruchsvolle, überwiegend realistische Bücher für erwachsene sowie jugendliche/indliche Leserinnen und Leser aus dem Hebräischen, dem Englischen und dem Niederländisch-Flämischen übersetzt hat. Zu den wichtigsten von ihr übersetzten Autorinnen und Autoren gehören neben Amos Oz auch Bart Moeyaert, Uri Orlev, Gila Almagor und Simon van der Geest.
Ihr Hauptinteresse galt bei den Titeln, die sie übersetzt hat, der jüdischen Geschichte in Vergangenheit und der Gegenwart. Insbesondere die niederländische Literatur weckte ihr Interesse, denn es faszinierte sie, wie die Shoah in der Kinder- und Jugendliteratur dargestellt wurde. Sie übersetzte bereits früh das Werk von Ida Vos, aber auch Romane von Adriaan Venema oder Bert Kok.
In den Romanen der jüngeren Generation wie bspw. Simon van der Geest wird von brüchigen und komplexen Kindheiten erzählt. In dem Roman Krasshüpfer (dt. 2016) wird ein plötzlicher Zwist der Brüder Hidde und Jeppe in den Mittelpunkt gerückt. In Das Abrakadabra der Fische (dt. 2019) kommt dagegen die zwölfjährige Vonkie den weit zurückliegenden Streitigkeiten ihres Großvaters mit seinem Bruder auf die Spur. In beiden Romanen sind es zwei kindliche Ich-Erzähler, die sich den Kommunikationsschwierigkeiten stellen und nach Lösungen suchen. Nicht nur diese zuletzt übersetzten Texte deuten auf einen Kontext zwischen Mirjam Presslers Schreiben eigener Geschichten und ihrer Kunst des Übersetzens. Obwohl die Autorin immer wieder betonte, dass beide Sphären ihres Werks getrennt voneinander existieren, so offenbaren sowohl die Themen der gewählten Geschichten aus anderen Kulturen als auch deren ästhetische Gestaltung einen engen Zusammenhang zum Erzählwerk Mirjam Presslers, indem durch sie sichtbar wird, welche Lebensfragen für diese herausragende Schriftstellerin und Übersetzerin von Belang waren.
3 Rezeption
Das Werk wird in Schulen gelesen. Mirjam Pressler wurde für ihr umfangreiches Werk mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Bereits für ihr Debüt, Bitterschokolade, hat sie den Oldenburger Literaturpreis erhalten. 1987 stand u.a. Nickel Vogelpfeifer auf der Auswahlliste Deutscher Jugendliteraturpreis, 1994 hat sie den Deutschen Jugendliteraturpreis – Sonderpreis für Übersetzungen erhalten. 2001 folgte der Große Preis der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur. 2015 erhielt sie für ihre Übersetzung des Romans Judas von Amos Oz den Preis der Leipziger Buchmesse. 2017 verlieh ihr die Stadt München den Literaturpreis für ihr Gesamtwerk.
Literaturverzeichnis
Primärliteratur (eine Auswahl)
- Weinheim: Beltz & Gelberg 2006 [EA: 1980].
- Kratzer im Lack. Weinheim: Beltz & Gelberg 1992 [EA: 1981].
- Weinheim: Beltz & Gelberg 1990 [EA: 1982].
- Nickel Vogelpfeifer. Weinheim: Beltz & Gelberg 1986.
- Wenn das Glück kommt, muss man ihm einen Stuhl hinstellen. Weinheim: Beltz & Gelberg 1984.
- Ich sehne mich so. Die Lebensgeschichte der Anne Frank. Weinheim: Beltz & Gelberg 1992.
- „Grüße und Küsse an alle“. Die Geschichte der Familie von Anne Frank. Frankfurt am Main: Fischer 2015 [EA: 2009].
- Malka Mai. Weinheim: Beltz & Gelberg 2001.
- Die Zeit der schlafenden Hunde. Weinheim: Beltz & Gelberg 2003.
- Wundertütentage. Weinheim: Beltz & Gelberg 2005.
- Golem stiller Bruder. Weinheim: Beltz & Gelberg 2007.
- Nathan und seine Kinder. Weinheim: Beltz & Gelberg 2009.
- Ein Buch für Hanna. Weinheim: Beltz & Gelberg 2011.
- Ich bin’s, Kitty: Aus dem Leben einer Katze. Mit Illustrationen von Rotraut Susanne Berner. Weinheim: Beltz & Gelberg 2018.
- Dunkles Gold. Weinheim: Beltz & Gelberg 2019.
Übersetzungen
- Bate, Helen: Peter in Gefahr. Übersetzt aus dem Englischen. Frankfurt am Main: Moritz 2019.
- Doron, Lizzie: Warum bist du nicht vor dem Krieg gekommen? Aus dem Hebräischen. Frankfurt am Main: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag 2005.
- Folman, Ari/Polonsky, David: Das Tagebuch der Anne Frank. Graphic Diary. Übersetzt von Mirjam Pressler, Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Frankfurt am Main: S. Fischer 2017.
- Geest, Simon van der: Das Abrakadabra der Fische. Übersetzt aus dem Niederländischen. Stuttgart: Thienemann 2019.
- Geest, Simon van der: Krasshüpfer. Übersetzt aus dem Niederländischen. Stuttgart: Thienemann 2012.
- Goldberg, Leah: Zimmer frei im Haus der Tiere. Mit Illustrationen von Nancy Cote. Aus dem Hebräischen. Berlin: Ariella 2011.
- Gottesfeld, Jeff: Anne Frank und der Baum. Der Blick durch Annes Fenster. Mit Illustrationen von Peter McCarthy. Aus dem Amerikanischen. Frankfurt am Main: S. Fischer 2018.
- Moeyaert, Bart: Brüder. Der Älteste, der Stillste, der Echteste, der Fernste, der Liebste, der Schnellste und ich. Aus dem Niederländischen. München: Hanser 2006.
- Orlev, Uri: Lauf, Junge, lauf. Aus dem Hebräischen. Weinheim: Beltz & Gelberg 2004.
- Oz, Amos: Unter Freunden. Aus dem Hebräischen. Berlin: Suhrkamp 2013.
Aufsätze, Reden und Interviews
- Dankesrede anlässlich der Verleihung des „Großen Preises“ der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur Volkach. In: Volkacher Bote 2001a, Nr. 74, S. 8–9.
- Eine Orchidee blüht im Continen-Tal. Rede in der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt am 29. Juni 2001. Mit Werkverzeichnis und Literatur zum kinder- und jugendliterarischen Werk. Freundeskreis des Instituts für Jugendbuchforschung. Jahresgabe 2001b.
Forschungsliteratur (eine Auswahl)
- Anne Frank Fonds (Hg.): Anne Frank. Gesamtausgabe. Tagebücher – Geschichten und Ereignisse aus dem Hinterhaus – Erzählungen – Briefe – Fotos und Dokumente. Aus dem Niederländischen von Mirjam Pressler. Frankfurt am Main: Fischer 2018 [EA: 2013].
- Glasenapp, Gabriele von (2019): „Lehmriese lebt!“ Golem-Narrationen in der modernen Populärkultur. In: Ute Dettmar/Ingrid Tomkowiak (Hg.): Spielarten der Populärkultur. Kinder- und Jugendliteratur und -medien im Feld des Populären. Frankfurt am Main [u. a.]: Peter Lang 2019, S. 95–125.
- Mikota, Jana: „Anne wieder sichtbar machen“: Mirjam Presslers Blick auf Anne Frank. In: kjl & m, H. 1, 2020, S. 10–17.
- Richter, Karin: Die Kinder- und Jugendbuchautorin Mirjam Pressler: Gedanken zum literarischen Werk. In: Kurt Franz/Paul Maar (Hg.): Leser treffen Autoren. Autorenporträts – Selbstcharakteristiken – Lesungen. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren. 2006, S. 84–96.
- Richter, Karin/Mikota, Jana: Mirjam Pressler (1940–2019). Romane – Erzählungen – Übersetzungen. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren 2021.